Freitag, 19. Mai 2017

Der arme Taglöhner und der Tod


Ein armer Taglöhner schleppte sich die Tage seines Lebens jämmerlich fort, und doch legte er achtzig Jahre zurücke. Was er sich immer seufzend wünschte, war nichts anderes als: Lieber Tod, komm doch endlich einmal!
– Erlöse mich doc h endlich, lieber Tod!
Der Tod erhörte ihn, und kam.
Der Taglöhner erschrack, und bath: nur drey Jahre noch, lieber Tod! – – lieber Tod, nur drey Jahre noch.
Nach dreyen Jahren kam der Tod wieder, und der arme Taglöhne bath wiederum um drey Jahre.
Je nun, sagte endlich der Tod. Ihr Menschen rufet mich, wenn ihr mich nicht sehet, und wenn ich komme, so fürchtet ihr mich. Ich will euch hinfür von ohngefähr überfallen.
Von dieser Stunde an sterben die Menschen, wenn sie es am mindesten vermuthen.

Heinrich Braun
Versuch in prosaischen Fabeln und Erzählungen
München 1772
zu finden bey Johann Nepomu, Fritz
und Augspurg bey Iganz Anton Wagner,
Buchhändlern.

Montag, 15. Mai 2017

Der Wanderer und der Tiger

Einst ging ich im Dakschinawald,
Da sah ich einen Tiger bald
Der, gebadet, mit Kusagras in der Hand
Lauernd sass an des heiligen Teiches Rand.
»He da, ihr Wandrer! rief er laut,
»Wer will dies goldne Armband, schaut!«
Die Rede vernehmend, von Furcht bestrickt,
Sich mancher schnell von der Seite drückt.
Doch von der Habgier angefacht
Ein Wandrer also bei sich dacht’:
»Hätt’ ich’s, es wär’ ein Glück, fürwahr, –
»Und doch – was soll ich in  die Gefahr
»Mich blindlings stürzen?… Wie heisst es doch?
»Erwünschtes bei Verwünschten sehn und holen ist nicht angenehm;
»So ist ja selbst gemischt mit Gift der Göttertrank ein tödtlich Gift.
»Doch beim Erwerb ist auf der Welt
»Auch überall Gefahr bestellt:
»Der die Gefahr nicht wagt, der Mann erschaut im Leben nie das Glück,
»Doch wagt er die Gefahr und bleibt am Leben, schaut er auch das Glück.
»So will ich’s wagen!« Drauf sprach er keck:
»Wo ist denn nun dein Armbesteck?«
Der streckt die Tatze aus und lässt’s ihn schaun. –
Der Wandrer spricht: »wie mach’ ich’s nur
»Dir, dem leibhaft’gen Tode, zu vertraun?«
Der Tiger spricht: »o Wandrer, höre nur!
Vordem, im Jugendalter, war
Ich überschlimm, das ist schon wahr;
Doch bei all dem Morden von Menschen und Thieren
Must’ ich Kinder und Weib durch den Tod verlieren,
Und wurde der ganzen Familie beraubt.
Da trat mich einer mit der Mahnung an:
»Gieb Armen und fang frommen Wandel an!«
Auf seinen Rath nun bin ich alter Gauch,
Zahnlos und klauelos, ergeben frommem Brauch.
Wie sollte mir man nicht vertrauen! Ei,
Ich bin so sehr von aller Habgier frei,
Dass ich dies goldne Band in meiner Hand
Dem Ersten, Besten wünsche zu verehren.
Du bist sehr arm. Ich will es dir bescheeren.
Hast du nur erst in diesem Teich gebadet,
Dann nimm das goldne Armband unbeschadet!«
Sobald nun der nach jenem Wort vergnügt
Mit Gier zum Bad sich nach dem Teich verfügt,
Da sank er plötzlich tief bis an den Rumpf,
Unfähig zu entfliehen, ein im Sumpf –
Den in dem Sumpf versunk’nen sah
Der Tiger nun und sprach: »haha!
»Du sinkst wohl gar im Sumpfe ein!
»Nun wart’, ich will dich gleich befrein.« –
Nachdem der Tiger so gesprochen,
Kommt langsam er herangekrochen
Und dinget auf den Wandrer ein.
Dem fällt der weise Spruch noch ein:

Nicht des Gesetzbuchs Kunde nützet, dies ist
Ganz klar, auch nicht die heil’ge Schrift dem Bösen; –
So fest gewurzelt ist ein Eigenwesen
Wie von Natur die Milch der Kühe süss ist.

So hab’ auch ich nicht wohl gethan
Dem Mordthier mich so fromm zu nah’n…
Noch bedacht’ er so, da ward er schon zerfleischt
Und von dem Tiger alsobald verspeist.

Ausgewählte Fabeln
des Hitopadesa,
im Urtexte nebst metrischer deutscher Uebersetzung
von
August Boltz
Offenbach a.M. 1868

Montag, 8. Mai 2017

Die Fabel von der Zecke

Gib mir dein Blut, sagte die Zecke und biss sich in den Igel. Dem war das unangenehm, aber er kam nicht an den Blutsauger heran. Seine eigenen Stacheln verhinderten dies. Als sie vollgesogen war, ließ sich die Zecke erleichtert fallen, um gleich darauf von einem Raben aufgepickt zu werden. Igel und Rabe freuten sich beide; der eine, weil er die Zecke los war, der andere, weil er sie hatte.

Horst-Dieter Radke