Dienstag, 31. Januar 2017

Hahnenkampf

Zwei Hähne wollten miteinander kämpfen. Sie sprachen in die Runde: »Schaut zu, und lacht den aus, der unterliegt!«. Dann begannen sie mit dem Kampf. Zunächst konnte keiner dem anderen beikommen, dann jedoch hackte der eine dem anderen ein Auge aus. Der eine hackte weitere, bis auch das zweite Auge des anderen blind war. Da fiel dieser um und starb. Der überlegene Hahn krähte so laut vor stolz, dass alle ihn hören konnten. Er flog auf einen Dachfirst und krähte von dort oben herunter: »Ich bin der Größte, keiner kann mir widerstehen.«
Da kam ein Habicht geflogen, fasste den Hahn und flog mit ihm fort. Er tötete ihn und fraß ihn auf. Da sagte ein Huhn zu den andern: »Wir sollten nicht zu pralerisch sein, einen Unglücklichen nicht noch unglücklicher machen als er ist.«
Dann kam ein alter Mann und sprach: »Seid nicht zu großsprecherisch, sterben müssen wir zuletzt alle.«
nach: Die beiden Kampfhähne
aus: Die Insel der schönen Si Melu
Indonesische Dämongeneschichten, Märchen und Sagen aus Simalur
von Dr. Hans Kähler
Erich Röth-Verlag, Eisenach und Kassel, 1952

Sonntag, 29. Januar 2017

Die faule Frau mit dem Korb

(c) Mirjam Radke
Kind am Strand von Malaysia

Es war einmal eine Frau, die war sehr faul. Sie wollte nicht arbeiten, ja, sich kaum baden; nur einmal wusch sie sich in zehn Tagen.

Eines Tages ging sie nach dem Badeplatz. Da rief eine Nipapalme nach ihr, die auf der anderen Seite des Ufers wuchs. Die Palme rief und rief, aber die Frau war viel zu faul, um zu antworten oder über den Fluß zu fahren und zu fragen, was sie wollte. Schließlich sagte die Nipapalme: »Warum bist du denn so faul, daß du nicht mal über den Fluß fahren willst? Auf deiner Seite ist doch ein Kahn; steig' ein, rudere herüber und hole dir meine jungen Blattsprossen.« Ganz langsam und bedächtig trottete die faule Frau nach dem Kahn, ganz langsam und bedächtig fuhr sie über das Wasser und holte sich dann die Blattsprossen. Darauf sagte die Nipapalme: »Ich rief dich, weil du so faul bist. Nimm nun diese Sprossen mit, trockne sie ein wenig in der Sonne und mach' dir daraus einen Korb.« Die faule Frau hätte beinahe geweint, als sie hörte, daß sie einen Korb machen sollte; sie nahm jedoch die Sprossen mit nach Hause und flocht auch richtig den Korb.

Als er fertig war, sagte er zu der Frau: »So, nun bringe mich an den Weg, wo die Leute zu Markte ziehen, setze mich dort hin, wo alle vorüber müssen, und dann geh' nach Hause.« Die Frau nahm den Korb und tat, wie ihr geheißen war. Viele Menschen zogen vorüber, niemand bemerkte ihn, bis schließlich ein reicher Mann des Weges kam. Als der ihn sah, sagte er: »Den Korb will ich nach dem Markte mitnehmen, da will ich meine Einkäufe hineinpacken, und treffe ich den Eigentümer auf dem Markte, dann kann ich ihn ihm wiedergeben.« Darauf ging der reiche Mann auf den Markt und fragte jeden, ob er einen Korb vermisse, aber niemand meldete sich. »Schön,« sagte der reiche Mann, »dann gehört er mir, ich werde meine Einkäufe hineinpacken und ihn mit nach Hause nehmen; wenn ihn jemand beansprucht, mag der zu mir kommen und ihn sich holen.« Und der reiche Mann packte alle seine Einkäufe hinein: Betelnüsse, Kalk, Kuchen, Fische, Reis und Bananen, bis der Korb voll war; wie nun der Mann sich noch ein Weilchen mit seinen Freunden unterhielt, verschwand der Korb und begab sich nach dem Hause der faulen Frau. Als er noch ein Stückchen vom Hause ab war, rief er die faule Frau. »Nun komm' her, komm' her und hilf mir, ich kann das Gewicht nicht allein schleppen.« Da ging die Frau zum Korbe hinaus, obschon sie dem Weinen nahe war, daß sie dies tun mußte, und holte ihn heim. Als sie sah, was für schöne Sachen darin lagen, meinte sie: »Das ist ja ein herrlicher Korb, aber vielleicht will er seinen Lohn dafür haben. Jedenfalls kann ich, wenn das immer so geht, ein recht gemütliches Leben führen. Ich brauch' den Korb doch nur an den Weg nach dem Markte zu setzen.« So setzte die Frau denn an den Markttagen den Korb immer an den Weg hin, und stets kehrte er gefüllt nach Hause zurück.

Sechs Leute betrog er auf diese Weise um ihr Eigentum. Nun machte es sich, daß die Sechse, die so ihre Habe eingebüßt hatten, den Korb wieder trafen, als sie zum siebenten Male zu Markte zogen. Sie erkannten den Betrüger sogleich wieder. Und diesmal sammelten sie Kuhfladen zusammen und füllten den Korb damit bis oben hin an. »Denn,« sagten sie, »dieser Korb ist ja ein abgefeimter Schurke.« Der volle Korb wanderte nicht auf den Markt, sondern begab sich nach Hause. Als die faule Frau ihn kommen sah, eilte sie zum Hause heraus. Als sie aber sah, daß er voller Kuhfladen war, schrie sie laut auf: »O, nun werde ich sterben müssen, denn der Korb bringt mir ja nichts mehr zu essen.« Und wirklich, fortan brachte der Korb nichts mehr vom Markte heim.

Hambruch, Paul
Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde
Eugen Diederich, Jena 1922

Montag, 23. Januar 2017

Der Soman-Soman-Dämon

Einmal fuhr ein Mann zum Festland und ließ seine Frau mit dem neugeborenen Kind zurück. Die Frau wickelte das Kind, legte es in eine Wiege, verließ die Hütte und ging Reis stampfen. Als die Sonne niedrig stand, hörte sie plötzlich eine Stimme:

Stampfe weiter, denn es ist noch ein Kopf übrig!
Siebe weiter, denn es ist noch ein Kinn übrig!
Seihe weiter, denn es ist noch ein Ohr übrig!

Als sie nichts mehr vernahm, eilte sie zurück zu ihrem Haus. In der Wiege sah sie nur noch Blut. Im gleichen Moment sprang etwas aus der Wiege und die Frau erblickte einen kleinen, sehr alten Mann mit gekrümmten Rücken und rot gefärbter Jacke.

Sie schrie um Hilfe und bald eilten die anderen Leute des Dorfes herbei. Keiner konnte den Dämon jedoch sehen und so nahmen sie die Frau mit den Resten ihres toten Kindes mit hinaus und zündeten dann Haus an. Als sie am anderen Morgen nachschauten, fanden sie eine verkohlte Wildkatze in der Asche.

Nun hatten sie Ruhe vor dem Dämon.

nach: Der Soman-Soman-Dämon’ und die Frau, die Reis stampfte
aus: Die Insel der schönen Si Melu
Indonesische Dämongeneschichten, Märchen und Sagen aus Simalur
von Dr. Hans Kähler
Erich Röth-Verlag, Eisenach und Kassel, 1952

Freitag, 20. Januar 2017

Der Affe und die Seegurke


 Foto: (c) Mirjam Radke


Es war 'mal ein Affe, der kam aus dem Hain. Und er ging hinaus um Schaltiere zu suchen, der arme Teufel! Und während er durch den Meertang lief, sah er eine Klebe-
Tripang.

Der Affe sagte: „Wohlan, Tripang, sofort wirst du platt getreten werden.”

Die Tripang antwortete: „Ich bin nicht deine Sklavin, Affe, rede doch nicht solch albernes Zeug!”

Der Affe sprach wieder: „Rede nicht so baren Unsinn, Tripang; sogleich werde ich dich zertreten, hörst du; es scheint mir, du willst scherzen!”

Die Tripang antwortete: „Zertrete mich nur, du mit deinen Lügen!”

Da versetzte ihr der Affe einen Fusstritt mit der rechten Pfote. Und seine Pfote klebte fest.

Der Affe sagte: „Lass loss, Tripang, willst du! sonst versetze ich dir einen Tritt mit meiner linken Pfote!”

Die Tripang sprach wieder: „Thue es nur frei!”

Da gab ihr der Affe abermals einen Fusstritt, folglich klebten die beiden Pfoten des Affen an der Tripang fest.

Da sagte der Affe: „Lass los, Tripang, sonst werde ich dich stossen!”

Die Tripang erwiderte: „Stosse nur zu!"

Der Affe stiess mit der rechten Faust, und auch diese klebte fest. Dann stiess er mit seiner linken Faust , und auch die klebte fest.

Darauf sprach der Affe: „Lass los, Tripang, sonst werde ich dich beissen, hörst du?”

Die Tripang sagte: „Beisse nur zu!”

Da biss sie der Affe, und sein Mund klebte fest.

Und als das Wasser stieg, so ist der Affe ertrunken, weil er an dem Körper der Tripang festgeklebt blieb.

Volksdichtung aus Indonesien
Sagen, Tierfabeln und Märchen
Übersetzt von T. J. Bezemer
1904

Originaltitel: Der Affe und die Tripang (Holothuria edulis)

Samstag, 14. Januar 2017

Der Kaffee-Klatsch der Tiere

 Es waren einmal drei Tiere, die Kröte, die Maus und die Kakerlak; die wohnten in einem Hause zusammen, und duzten sich unter einander.

Als sie eines Tages zusammen waren, so ging die Maus nach dem Wasser und die Kröte fing an, verleumderisch zu reden und sagte:

„Ach , Freundin Kakerlak, meine Freundin Maus hat eine ganz spitzige Schnauze wegen des Stehlens von dem Säkorn der ganzen Bevölkerung.”

Die Maus aber hatte sie belauscht in dem Raume unter dem Hause. Und als sie hörte , dass sie verlästert wurde , so weinte sie und ergrimmte. Als sie wieder nach oben gekommen war, fragte sie: „Sagt mal , ihr beide , ich habe eine spitzige Schnauze wegen Diebstahls von Jedermanns Säkorn, nicht wahr?”

Sie antworteten: „Nein, Freundin Maus, wir redeten nicht übel von dir, verstehe es nur gut, im Gegenteil, wir redeten davon, dass die Schnauze unserer Freundin Maus spitzig geworden sei wegen des Einbringens der Muster in die Gewebe”.

Dann entfernte sich die Kröte einen Augenblick; und jetzt verlästerte sie die Maus, und sprach: „Ach, Freundin Kakerlak, die Pfoten der Freundin Kröte sind schmal geworden wegen des Springens auf Steine, und ihre Schenkel sind abgeplattet durch das Sitzen auf Steinen.” Die Kröte aber war nicht ans Wasser gegangen, sondern hatte sie unter dem Hause belauscht.

Sie stieg hinauf und sprach : „Ihr sagt, ich habe mit meinem Springen meine Schenkel vermagert?” Sie antworteten: „Doch nicht, Freundin, wir redeten davon, dass deine Schenkel durch das Webbrett abgeplattet worden sind.”

Danach ging die Kakerlak nach dem Hofe. Da redeten die beiden anderen abermals verleumderisch: „Die Haut unserer Freundin Kakerlak ist geglättet wegen ihres Kriechens in die Kisten der ganzen Welt.” Die Kakerlak hatte unten abgelauscht, stieg hinauf und sprach: „Ihr sagt, ich bin glatt geworden durch das Kriechen in die Kisten der ganzen Welt?” „Nein doch” war die Antwort, „wir redeten darüber, dass du glatt geworden bist vom Häkeln: sogar in der brennenden Sonne sitzest du und häkelst.”

Volksdichtung aus Indonesien
Sagen, Tierfabeln und Märchen
Übersetzt von T. J. Bezemer
1904

Mittwoch, 11. Januar 2017

Das versteinerte Schiff

In uralter Zeit war die ganze Insel Borneo noch Meer; dazumal war der Berg Lantjak eine Insel mit zahlreicher Bevölkerung.

Es lebte einmal auf dieser Insel eine arme Witwe, die einen einzigen Sohn hatte, namens Linggi. Es war dieser ein recht boshafter, unartiger Bube, der seiner Mutter gar viel
zu schaffen machte. Eines Tages, als sie am Webstuhl sass, quälte er sie wieder fortwährend, ja, nahm ihr sogar den Tropong (Schiessspuhl) mit dem er sich aus dem Staube machte.
Beim Spiele verletzte er sich mit demselben so sehr, dass er eine tiefe Wunde in der Stirn bekam. Die Wunde heilte bald, hinterliess aber ein breites Wundmal.

Als der Linggi das Jünglingsalter erreicht hatte , verliess er seine Mutter, und reiste nach fernen Gegenden. Jahre und Jahre vergingen, ohne dass die Witwe die geringste Nachricht von ihrem Sohne bekam. Schon war sie alt und grau geworden und noch immer kehrte der Linggi nicht heim.

Nach längerer Zeit endlich warf ein grosses Schiff den Anker vor Lantjak aus. Da zog Alt imd Jung zum Meeresufer, und als man den Djuragan (Schiffskapitän) sah, riefen Viele: „Seht,
da ist der Linggi heimgokommen ! Ja , gewiss , er ist es , seht nur die Narbe an seiner Stirn!” Und froh stolperte auch das alte Mütterchen herbei , ihren langersehnten Sohn zu bewillkommen. Der Linggi aber , stolz auf seine erworbenen Reichtümer , rief: „Ihr seid alle verrückt, ich habe euch niemals gesehen. Und die Alte da kenne ich auch nicht, sie ist keineswegs meine Mutter.”

Der armen Witwe drangen die Worte des entarteten Sohnes wie ein Dolch ins Herz, und empört schrie sie: „Bist du wirklich ein Fremder, so geh ’s dir wohl; hast du aber einmal
meine Milch getrunken, so sei verflucht, dann möge Allah’s Zorn dich treffen !”

Entsetzt hörten die Umstehenden dem Mutterfluch zu; der Sohn aber stand mit höhnischem Lachen auf dem Schiff, und befahl, den Anker zu lichten, um fortzusegeln.

Kaum aber war das Schiff in voller See, da sandte Allah einen tobenden Sturm, der Wand und Segel zerriss; haushoch türmten sich die Wogen, und überstürzten das Fahr-
zeug, sodass es zu sinken anfing.

„Mutter” rief Linggi in Todesnot, „Mutter ! Gnade, hilf mir, ich bin dein Kind.” Für ihn aber war die Gnadenfrist vorüber, allmählich sank das Schiff mit Mann und Maus, und
die Wellen schlossen sich über dem entarteten Sohn.

Und später, als das Meer sich von Borneo zurückgezogen hatte, da fand man das Schiff, versteinert wie es sich noch heute im stillen Thalgrunde des Rapuns befindet.

Volksdichtung aus Indonesien
Sagen, Tierfabeln und Märchen
Übersetzt von T. J. Bezemer
1904

Montag, 9. Januar 2017

Warum der Kasuar nicht fliegen kann

Ein Kasuar und ein Manggarpis (sehr kleines Vöglein) waren zusammen ausgeflogen um Früchte zu suchen. Der kleine federleichte Vogel sass auf einem dünnen Zweig, der Kasuar auf einem sehr schweren Ast, der aber zerbrach, wodurch er genötigt war, einen noch schwereren zu suchen. Er fand einen solchen an einem Fruchtbaum; und bald fingen beide (denn der Manggarpis war dem Kasuar gefolgt) zu essen an. Der Kasuar aber frass dem kleinen Vogel alles vor der Nase weg.
Dann flogen die beiden nach einem andren Baum, und der Kleine dachte: Warte nur, du isst mir alles vor der Nase weg, sofort werde ich dich zum besten haben und dafür wachen dass du mir nicht länger die Früchte wegstibitzt.«
Und während er auf einem leichten Zweig sass, verrichtete der Kleine seine Notdurft, und reinigte seinen Hintern mit einem Hölzchen.
Der Kasuar rief: »Welches Holz gebrauchst du dazu?«
Der kleine Vogel antwortete: »Ich ziehe mir selbst die Flügel aus, und gebrauche dieselben.«
Dann setzte sich der Kasuar und verrichtete ebenfalls seine Notdurft; inzwischen kam der kleine Vogel und riss ihm die Flügel aus, welche von dem Kasuar zu dem obern erwähnten Zwecke verwendet wurden.
Dann sagte der kleine Vogel: »Lasst uns einmal fliegen« und flog von dannen; der Kasuar aber hatte das Fliegen verlernt. Da rief ihm der Kleine zu; »Als wir zusammen flogen, assest du all die Früchte; darum habe ich dich betrogen, denn ich gebrauchte keine Flügel, sondern ein Hölzchen.«
Der Kasuar sprach; »Weil du mich betrogen hast, so wird, wenn dich ein Bube sieht, er dich mit Steinwürfen zu töten versuchen, oder dir mit einem Pfeilchen den Garaus machen.«
Der kleine Vogel sagte: »Gut, gehe du nur in den Wald hinein, Hund oder Mensch, wer dir auch begegnet, wird versuchen dich zu töten.«

Volksdichtung aus Indonesien
Sagen, Tierfabeln und Märchen
Übersetzt von T. J. Bezemer
1904

Freitag, 6. Januar 2017

Das Ramayana der Inder auf Bali


Foto: (c) Mirjam Radke


Spätere Forschdungen haben ergeben, daß nciht nur ein großer Theil der malayischen Bildung unter indischem Einfluß stand, sondern daß die höchst merkwürdige Kavi-(Kawi)Sprache und Literatur auf der Insel Bali (östlich von java) ein Ableger der Sanskrit-Literatur ist, zu der sich das gewöhnliche Bali ähnlich verhält wie die indischen Präkrits zum Sanskrit.

Auf Bali fanden sich zwei Bearbeitungen des Ramayana: die eine von M’pu Raja Kusuma, auch Yogisvara (Fürst der Büßer) genannt, Vater des M’pu (Hempu) Tanakung, die andere von dem Dichter M’pu Dharmaja, Verfasser der Svaradahana. Die Sprache ist reines Kavi mit sehr starkem Sanskrit-Beisatz. Das Gedicht ist hier nicht in sechs Bücher getheilt, sondern in 25 Gesänge (wie die singhalesische Bearbeitung). Mehrere Episoden fehlen, so die langen Geschichten von Ramas Jugend im Bala-Kunda, die Erzählungen des Vasishtha aus den alten Zeiten, von den Sagariden, von der Herabkunft der Ganga, von der Buße Vicvamitras. Der Uttara-Kunda bildet im Bali ein eigenes Werk. Ob diese Kürzungen einer ursprünglich kürzeren Sanskritvorlage oder einer spätern, auszüglichen Bearbeitung zuzuschreiben sind, ist fraglich. Letzteres dürfte doch das wahrscheinlichere sein.

Alexander Baumgartner (1841-1910)
Das Ramayana und die Rama-Literatur der Inder, 1894
(S. 158)

Mittwoch, 4. Januar 2017

Zwei malayische Parabeln - II. Die Bedingungen

Foto: (c) Mirjam Radke

Eines Tages kam König Alexander der Große vor eine verfallene Stadt. Da erblickte er am Stadttor eine Schrifttafel, auf der stand folgendes zu lesen: »Diese Stadt wurde von sieben Fürsten beherrscht, und sie sind alle gestorben.« – Alexander betrachtete die Tafel, las die Inschrift und fragte dann seine Begleiter: »Wer haust denn jetzt in dieser Stadt? Ist noch ein Nachkomme der Fürsten vorhanden?« Einer erwiderte: »Ja, Majestät, es ist noch ein männlicher Nachkomme da, der wohnt bei all' den Gräbern.« –

Alexander der Große sprach: »Geh' und bring' ihn zu mir her!« Der Mann ging zu ihm und jener kam.

König Alexander fragte: »Nun, Diener Allahs, sag' an, weshalb weilst du beständig auf dem Friedhof?«

Der Nachfahre der Fürsten verbeugte sich und antwortete: »Majestät, großmächtigster Herr der Welt! Ich bemühte mich lange, den Unterschied zwischen den Gebeinen der Könige und ihrer Sklaven herauszufinden. Es gelang nicht. Sie sind einander gleich, und ich vermag sie nicht zu unterscheiden.«

Da sagte König Alexander der Große: »Willst du mir folgen? Ich will dir ein Amt geben.« Der Nachfahre der Könige entgegnete: »Großmächtigster Herr und König! Zuvor möchte ich Euch um Verlaub bitten, an Euch einige Bedingungen stellen zu dürfen. Befriedigt Ihr dann mein Begehren, so will ich Euch gern folgen.« –

König Alexander fragte: »Wohlan, Herr Königssohn, nennt Eure Bedingungen.«

Der erwiderte: »O, Majestät! Erstlich: ein Leben ohne Tod. Zweitens: eine Jugend ohne Alter. Drittens: einen Reichtum ohne Armut. Viertens: stete Freude, in der kein Schmerz ist.« Nun meinte König Alexander: »Ei, Herr Königssohn, wer hat Macht über solches?«

Sprach der andere: »Großmächtigste Majestät, Herr und König! Habt Ihr keine Macht, mir solches zu gewähren, dann schweiget und laßt mich nach solchem streben bei jemand, der die Macht hat, es zu vollbringen.«

Alexander der Große war betroffen, als er diese Worte des Königssprossen vernommen hatte.

Hambruch, Paul
Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde
Jena, 1922

Dienstag, 3. Januar 2017

Zwei malayische Parabeln - I. Das Große

(c) Mirjam Radke

In früheren Zeiten lebte ein König, der gab Befehl, einen prächtigen Palast zu errichten und ihn wunderschön auszuschmücken.

Als der Bau beendet war, ließ er alle Bewohner der Stadt zu sich kommen, um ihnen ein Fest zu geben. Sie erschienen alle und schmausten und freuten sich miteinander. Dann gab der König dem Palasthüter den Befehl: »Wer hier das Tor verläßt, den sollst du fragen: ›Hat der Palast einen Fehler oder nicht?‹« Einzeln kamen die Gäste heraus. Jeden befragte der Torhüter, wie ihm geheißen war. Und sie antworteten: »Wir finden am Palaste keinen Fehler.« –

Zuletzt kamen etliche Leute, die trugen grobe Kleider. Der Palastwächter fragte: »Seht ihr einen Fehler in diesem Bauwerk?« – Sie erwiderten: »Ja. Zwei Fehler sind uns nicht entgangen.« Als der Torhüter dies gehört hatte, hielt er sie an und berichtete dem König: »Großmächtigste Majestät, Herr der Welt! Ich habe Leute gefunden, die behaupten, daß dein Palast zwei Fehler besitzt.« Der König befahl: »Rufe sie her!« Sie kamen. Der König fragte: »Welche Fehler saht ihr an meinem Palast?« Da verneigten sie sich tief und antworteten: »Großmächtigste Majestät, Herr der Welt! Der erste Fehler des Palastes ist, daß auch er zerfallen und vergehen wird, und der zweite, daß auch alle seine Bewohner sterben werden.« Der König fragte weiter: »Kennt ihr denn einen Palast, der nicht vergehen wird, dessen Bewohner nicht sterben werden?« Sie antworteten: »Großmächtigste Majestät! Es gibt einen Palast, der nicht vergeht und dessen Bewohner nicht sterben, das ist der Himmel.«

Und sie erzählten ihm nun von all' den mannigfachen Freuden, bis im König die Sehnsucht nach dem Himmel erweckt war. Dann sprachen sie ihm von der Hölle und ihren Strafen, erweckten in ihm die Furcht und brachten ihn dahin, Allah, den Erhabenen, zu verehren. Als der Fürst ihre Rede vernommen hatte, ging er in sich und bekehrte sich; er verließ den Palast, verzichtete auf sein Reich und wandelte fortan auf Allahs Wegen.

Die Barmherzigkeit Allahs sei mit ihm!

Hambruch, Paul
Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde
Jena, 1922