Mittwoch, 28. Oktober 2015

Der Märchenerzähler erzählt eine neue Geschichte

Wenn die Dämmerung kommt und die meiste Arbeit gemacht ist, gehen alle auf den Markt, von dem sich die Händler dann bereits zurückgezogen haben. Mitten auf dem Platz aber sitzt der Märchenerzähler und sobald alle sich um ihn herum versammelt sind, beginnt er, seine Geschichten zu erzählen. Er kennt viele Geschichten, die Zuhörer haben sie alle schon gehört, weil sie immer wieder kommen und es ihnen nie langweilig wird, sie ein zweites, ein drittes oder ein viertes Mal zu hören.

Doch heute sitzt der Erzähler lange still. Niemand traut sich etwas zu sagen oder zu fragen. Mal räuspert sich hier eine, mal hustet dort jemand. Irgendwann beginnt der Erzähler doch, mit geschlossenen Augen und mit einer ganz neuen Geschichte.

Eines Tages, so erzählt er, kam die Wahrheit an eine Wegkreuzung, und wusste nicht weiter. Jeder den sie fragte, gab ihr eine andere Antwort. Der eine sagte »links gehen«, eine andere behauptete »rechts ist der richtige Weg«. Ein noch junger Mann rief emphatisch: »Nur geradeaus führt der Weg ins Neue!« und ein altes Männlein wollte die Wahrheit sogar zurückschicken, weil direkt voraus das größte Unheil zu erwarten sei. Da stand sie nun, die Wahrheit, und wusste nicht, wem sie glauben sollte. Da ihr selbst die Lüge fremd war, galt alles, was andere sagten, für sie so, als hätte sie es selbst gesagt. Was tun? Gleichzeitig nach links, rechts, vorne und hinten ging nicht. Am liebsten wäre sie nach oben weg, weil das niemand vorgeschlagen hatte, aber fliegen konnte sie nicht. Seufzend ließ sie sich auf einen Stein am Wegesrand nieder. Hier wollte sie bleiben. Da kam ein kleines Mädchen an die Kreuzung und sah die Wahrheit. »Warum gehst du nicht weiter«, fragte es, »bist du müde?« »Nein, müde bin ich niemals, aber ich kann nicht sehen, wo ich hin soll. Jeder gibt mir eine andere Richtung an und deshalb weiß ich nicht, welchem Rat ich folgen soll.« »Ist doch egal«, sagte das Kind. »Wo du hingehst, muss es richtig sein, denn wo die Wahrheit erscheint, muss das Falsche verschwinden.« Da lächelte die Wahrheit, nahm das Kind an die Hand und ging mit ihr gerade aus weiter. Doch schon im nächsten Ort kamen die Menschen schreiend gelaufen, schlugen die Wahrheit, prügelten das Kind und warfen die Geschundenen zur Stadt hinaus. »Was war das?« klagte die Wahrheit. »Ich weiß es auch nicht«, weinte das Kind. »Sie haben etwas von Fremden, die ihnen die Heimat wegnehmen und die Ordnung zerstören wollen« gerufen. »Aber das ist ja schrecklich«, sagte die Wahrheit, »wer sind denn diese Fremden.« »Ich glaube, sie meinten uns damit«, antwortete das Kind. Da war die Wahrheit sehr betroffen und beschloss, nicht mehr geradeaus zu gehen sondern lieber nach links abzubiegen. Doch sie kamen nicht weit, denn bald standen sie vor einem Zaun, der aus stacheligen Drähten gespannt war. Da hinüber konnte sie nicht kommen. Nun gingen sie in die andere Richtung, bis sie zu einer Mauer kamen, die so hoch war, dass sie nicht drüber hinweg sehen konnten. Bald standen sie wieder an der Kreuzung und seufzend machte sich die Wahrheit auf den Weg dorthin zurück, woher sie gekommen war. Aber auch das wurde ihr bald verwehrt. Menschen standen dort, mit Waffen und drohten, sie zu vernichten, wenn sie nur einen Schritt weitergehen würde. So kam es, das seit diesem Tag die Wahrheit an der Wegkreuzung sitzt. Viele Kinder haben sich zu Ihr gesellt, viele zerschunden und zerschlagen. Sie alle bleiben dort und warten auf den Tag, an dem sich alle Wege wieder öffnen werden. Doch wann wird das sein?

Der Märchenerzähler erhebt sich, verneigt sich in alle vier Himmelsrichtungen, und geht. Keiner hindert ihn. Aber es bleibt still auf dem Platz und beim nach Hause gehen gibt es kein fröhliches Gespräch, keine angeregte Unterhaltung, kein Wort zum Abschied. Jeder denkt über diese Fabel nach, die der Märchenerzähler heute das erste Mal erzählt hat.

Horst-Dieter Radke

Dienstag, 27. Oktober 2015

Fabularium


Gesehen in Magdeburg, im Hundertwasserhaus. Eine von den außergewöhnlichen Buchhandlungen, die man gottseidank nach häufig findet – im richtigen Leben, und nicht im Internet. Fabularium ist Fabelhaft, finde ich.

Freitag, 23. Oktober 2015

Der Zauberteppich

In der Hauptmoschee zu Meschhed Hosseïn, der berühmten schiitischen Pilgerstadt, ist unter der Gebetsnische ein Teppich zu sehen, dessen Geschichte man folgendermaßen erzählt:

Zu Ijar, dem im ganzen Morgenland bekannten Teppichweber, kam Yussuf el Kürkdschü, der ebenso berühmte Musannif, um einen Teppich zu bestellen, der Eigentum seines Freundes Mazak, des jungen Kutubi, werden sollte. Ijar sprach:

»Ich habe eigentlich keine Zeit zu dieser Arbeit, jedoch weil du es bist, will ich sie übernehmen. Sie ist für Mazak bestimmt, dem meine Achtung angehört; darum werde ich dir nicht etwas Gewöhnliches, sondern das Beste liefern, was ich liefern kann.«

Nach einiger Zeit kam Yussuf el Kürkdschü wieder, um die begonnene Arbeit zu betrachten. Als er dies getan hatte, sagte er:

»Ich bin unzufrieden mit dir, o Ijar. Ich will ein Muster, das allen Leuten, besonders aber den Packträgern und Eselsjungen gefällt; du aber scheinst mich nicht verstanden zu haben.«

Da antwortete der Teppichweber:

»Du hast diese Arbeit für Mazak, den Kutubi, bestimmt, der weder Lastträger noch Eselsjunge ist, und wenn du glaubst, daß meine Kunst um das  Wohlgefallen der Verständnislosen zu buhlen habe, so irrst du dich. Laß mich machen, wie ich will; du wirst zufrieden sein!«

»Was ist es, was du willst?« fragte Yussuf.

»Einen Zauberteppich, der jeden Fuß, der ihn betritt, zum Pfad der Liebe lenkt. Ich webe ihn aus Fäden, die nie vergehen, sondern ewig währen.«

Diese Versicherung genügte dem Kürkdschü; er ging beruhigt fort. Aber als er nach einigen Tagen wiederkehrte, um die fortschreitende Arbeit in Augenschein zu nehmen, verfinsterte sich sein Angesicht, und er sprach:

»Ich sehe Gestalten, die mir nicht gefallen und auch keinem andern gefallen werden! Und ich sehe den Untergrund gefüllt mit Sprüchen der Weisheit, der Liebe und Barmherzigkeit, die das Auge des Beschauers stören. Ich bitte dich, ja nicht in dieser Weise fortzufahren!«

Da schaute der Weber ihn ernst an, schüttelte verwundert seinen Kopf und erwiderte:

»Ich habe dich für einen Kenner meiner Kunst gehalten und geglaubt, daß du Vertrauen zu mir hegest. Sollte ich mich geirrt haben? Willst du ein Werk von mir, so störe sein Entstehen nicht, sondern warte mit deinem Urteil, bis es fertig ist. Kannst du das aber nicht, so gehe in den Basar, wo man mit Schmerzen auf die Käufer wartet und heute verschachert, was morgen schon zerrissen wird.«

Der Kürkdschü entfernte sich schweigend. Er war nicht mit Ijar einverstanden, obgleich er ihm nichts entgegnen konnte. Aber als er zum drittenmal kam und seinen Blick auf den nun halbfertigen Teppich fallen ließ, rief er aus:

 »Maschallah! Was sehen meine Augen! Du füllst trotz meines Wunsches den Untergrund noch immerfort mit unwillkommenen Worten, und die Gestalten, die auf ihm entstanden sind, werden das Mißfallen jedes wahren Gläubigen erregen! Kürze das Werk und füge schnell den Rand hinzu! Da ich es bestellt habe, werde ich es behalten, obgleich es mir nicht gefällt. Zwar wird der Teppich nun kürzer als ich dachte, aber auf dem Basar sind genug andere zu haben, die ich für Mazak, den Kutubi, hinzufügen kann, damit er befriedigt werde.«

Da erhob Ijar sich von seiner Arbeit, lächelte wehmütig und sprach:

»So hast du also auch mir nur Ware des Basars zugemutet, und mich für einen Sohn gewöhnlichen Geschmacks gehalten! Wäre ich das, so säße ich bei den andern auf der Ladenbank und müßte mich wie sie um die Käufer heiser schreien. Aber ich webe nach Gedanken, die nicht zu kürzen sind, und wenn ich fertig bin, so haben diese Gedanken eine Tat vollbracht. Gehe getrost hin und kaufe da, wo du nun kaufen willst! Du brauchst meine Arbeit nicht zu behalten und nicht zu bezahlen. Nicht mein Geschäft, sondern Allah sorgt für mich!«

Yussuf el Kürkdschü entfernte sich zögernd, begleitet von der Ahnung, daß er töricht gehandelt habe. Ijar aber sandte den Teppich, als er ihn vollendet hatte, an El Akle, den weisesten der Kalifen. Dieser ließ ihn vor seinem Thron ausbreiten, rief die Großen seines Reiches zusammen und sprach, als sie vor dem Teppich standen:

»Betet die heilige Fatha, und laßt euch dann auf  dieses Gewebe nieder! Es wurde mir gesagt, daß es ein Teppich der Beratung sei. Ich will ihn prüfen.«

Da trat der Großwesir hervor und sagte:

»Wolltest du nicht die heilige Fahne des Propheten entfalten, um die Lehren des Islam auf den Spitzen unserer Schwerter hinaus in alle Welt zu tragen? Laß uns beraten, ob es der Wille Allahs ist!«

»Es sei euch gewährt,« antwortete der Kalif, »kniet auf den Rand des Teppichs, um zu beten!«

Sie gehorchten alle. Der Teppich war von grauer Farbe, und nichts, kein Spruch, kein Bild auf ihm zu sehen. Aber kaum sprachen sie dem Vorbeter die ersten Worte der Fatha nach, so begann er sich zu beleben. Der Spiegel des Gewebes füllte sich mit Dunkel, auf dem, goldig glänzend, Spruch um Spruch in der Reihenfolge erschien, in der sie von Ijar gewebt worden waren. Die grüne, wehende Fahne des Propheten wuchs hervor, und um sie scharten sich alle die Gestalten, die Yussuf el Kürkdschü nicht gefallen hatten: heulende und tanzende Derwische, Softas, Ulemas, Missionare, stürzende Säulen, Tempelmänner. Das alles kam und stand deutlich vor den Augen der Betenden, bis sie die letzten Worte der Fatha sprachen:

»Und führe uns nicht den Weg der Irrenden!«

Kaum waren diese Worte gesprochen, so begannen die Gestalten sich zu verwandeln, und zwar waren es grad so viel wie es Beter gab, und jeder von diesen hatte sein eignes Bild grad vor sich stehen, ihm ähnlich, zum Erstaunen ähnlich, aber doch das Zerrbild seines eignen Glaubens. Da sprang der Vorbeter erschrocken auf und rief:

 »Nein, nein, das bin ich nicht! O Allah, gib, daß ich ein andrer bin!«

Da stieg El Akle, der Kalif, von seinem Thron herab, stellte sich auf die Mitte des Teppichs und sprach:

»Ihr seid es alle, wie ihr euch hier seht. Es zeigt der Teppich euch die Züge eures Glaubens. Habt nun wohl acht, was jetzt geschehen wird!«

Sie sahen zu ihm auf, voller Erwartung, was nun geschehen werde. Sein Gesicht verwandelte sich; seine Gestalt wurde eine andre; nicht mehr der Kalif, sondern Ijar, der Weber, stand auf seinem Teppich. Er erhob gebieterisch seine Hand und sprach:

»Tretet zurück; ihr habt genug gesehen! Wenn dieser Teppich euch ein besseres Bild von eurem Glauben zeigt, dann ist es euch erlaubt, die Fahne des Propheten zu entfalten. Ihr seht jetzt meinen Geist, der hier bei seinem Werke lebt. Ich lege es in Allahs Tempel nieder. Geht hin, so oft ihr euch beraten wollt! Mein Geist wird dort euch stets die Wahrheit sagen!«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so war er wieder verschwunden und mit ihm der Teppich vor ihren erstaunten Augen. Am andern Tag aber verbreitete sich das Gerücht, daß in der Moschee zu Meschhed Hosseïn ein großer, grauer Teppich unter der Gebetsnische liege, den man dort nicht entfernen könne. Er sei unsichtbar über Nacht gekommen, und niemand habe ihn gebracht; es seien alle Wächter der Moschee bereit, dies zu beschwören.

Karl May

Dieser Text stammt aus dem Nachlass von Karl May. Näheres dazu hier

Dienstag, 20. Oktober 2015

Der Böxenwolf

Der Werwolf von Neuses
(Wikipedia)

Eine Abart des Werwolfs ist der sogenannte Böxenwolf; das ist ein Mensch, der mit dem Teufel im Bunde steht und durch Umschnallen eines Gürtels ein riesenstarker Wolf wird, um andere Leute zu quälen. Besonders liebt er es, denselben auf den Rücken zu springen und sich eine Strecke weit tragen zu lassen. Im Schaumburgischen giebt es wohl kein Dorf, wo sich nicht Jemand fände, dem dieß schon begegnet sein soll. Auch er wird durch Verwundung erkannt. – Der Name scheint auf das plattdeutsche böxen – Hosen – zurückzuführen und demnach einen Wolf zu bezeichnen, der eigentlich Hosen trägt, also einen männlichen Werwolf, dem sich vielleicht der von Grimm besprochene rheinisch-westfälische Uetterbock – Euterbock - als weiblicher zur Seite stellt (?).

Dr. Wilhelm Hertz
Der Werwolf
Beitrag zur Sagengeschichte
Stuttgart, 1862

Sonntag, 18. Oktober 2015

Fabel vom Storch und dem überschlauen Wolf


Ein Storch landete nach seinem langen Flug von Afrika entkräftet und müde neben dem Teich auf der großen Wiese. Sofort schlief er ein. Ein Wolf, der im Vorbeikommen den Storch sah, überlegte kurz, ob er ihn fressen sollte. Mit einem Blick auf die quakenden Frösche im Teich sagte er: Nein, den dürren, mageren Vogel mag ich mir jetzt nicht einverleiben. Ich warte noch ein bisschen, bis er sich wieder Fleisch an die Knochen gefressen hat. Dann wird er mir eine gute Mahlzeit sein.

Als der Storch am nächsten Tag erwachte und die Frösche im Teich hörte, begann er sofort, sich die besten herauszusuchen und zu verschlingen. Bald war er wieder kräftig und stand gut im Fleisch. Dem Wolf lief das Wasser im Mund zusammen, als er den Storch so sah. Er lief hin und wollte ihn fressen. Allein der Storch hob in aller Seelenruhe ab, flog noch ein paar Runden über dem Teich, in dem nur nur noch vereinzelt Frösche quakten und zog weiter. Der Wolf hatte das Nachsehen.

Horst-Dieter Radke

Samstag, 17. Oktober 2015

Von der Libelle, dem Frosch und dem Storch



»Du bist zu Höherem geboren«, sprach die Libelle, gerade aus dem so engen Puppenleib geschlüpft, zu sich selbst und stieg am Schilfhalm bis zur Spitze empor.
»Sie ist zu Höherem geboren, sagt sie«, sinnierte darüber der Frosch, die Augen fest auf das Insekt gerichtet. »Das verspricht ja ein Festmahl zu werden.«
»Stimmt«, ließ sich der Storch vernehmen und schnappte sich den Frosch just in dem Moment, als er auf dem Sprung zur Libelle war.

Und die Moral: Hör nicht auf dein Essen, wenn es spricht.

Wolf P. Schneiderheinze

Dienstag, 6. Oktober 2015

Habicht und Nachtigal

Der Habicht fasste die Nachtigall mit seine Krallen und flog mit ihr davon. Der Singvogel schrie und wehklagte laut über sein Schicksal. Da sprach der Habicht zu ihr: »Wozu schreist du, Törin? Glaubst du, dass dies etwas an deiner Situation ändert? Du bist jetzt in meiner Macht, weil ich stärker bin als du. Ob ich dich nachher töte und esse oder dich wieder freilasse, das liegt ganz in meinem Belieben. Du kannst zu deinem Unglück nur noch die Schande tragen, wenn du nicht einsichtig bist.«

Frei nach Hesiod (Werke und Tage 202-212)

Montag, 5. Oktober 2015

Der Holzwurm

Ein Holzwurm suchte seine Speis
In alten Bücherschränken.
Und lang beschäftigte sein Fleiß
Sich blos mit morschen Bänken.

Auf einmal aber fiel ihm bey,
An Bücher sich zu wagen;
Er fande daß es besser sey
Alß Bretter zu benagen.

Ein Alter schmutziger Roman,
War seine erste Beute
Dann fiel er den Menantes an,
Und Stegfrieds Helden Streite.

Nach diesen, weil ihm ungestört
Hier sein Gewerbe bliebe:
Nagt er ein Buch von großem Wehrt
Mit schadenfrohem Triebe.

Als drauf der Herr nach langer Zeit
Zu seinen Büchern nahte:
So schimpft’ er voll von Zorn und Neid
Auf die verwünschte Made.

»Du Frevler kannst dich unterstehn
Mir dieses Buch zu schänden.
Und schonend mit ihm umzugehn,
Hat ichs selbst nie in Händen!«

Mit spöttischem Gelächter schrie
der Wurm aus seinen Rizen:
»Du nüzest diese Buch ja nie,
Und darum wollt ichs nüzen!«

***

Ihr Kinder seht euch fleißig vor
Vor einem solchen Streite.
Sonst sagt der Holzwurm euch ins Ohr,
Ihr seyet faule Leute!

Belustigung für die Jugend in Fabeln und Erzählungen
von Christian Gottlieb Göz
Stuttgart, bey Christoph Friedrich Cotta, 1779

Donnerstag, 1. Oktober 2015

Die Geschichte von der Krähe, dem Hirsch und dem Schakal

In Madhyadesha gab es einen großen Wald, der Champakavati genannt wurde. Darin lebten schon lange ein Hirsch und eine Krähe zusammen und empfanden große Zuneigung füreinander. Einem umherschlendernden Schakal fiel der Hirsch auf, der einen satten und prallen Körper besaß.

Der Schakal überlegte: »Oh. Wie komme ich an dieses köstliche Fleisch? Nun, zunächst muss ich sein Vertrauen gewinnen.«

Mit diesen Gedanken näherte er sich dem Reh und sagte: »Freund, geht es dir gut?«

Das Reh fragte: »Wer bist du?«

Der Schakal antwortete: »Ich bin ein Schakal und heiße Kshudrabuddhi. Ich lebe in diesem Wald ohne Freunde oder Verwandte – ein trostloses Leben. Jetzt finde ich einen Freund in dir und fühle mich wieder den Sterblichen zugehörig. Ich werde nun immer dein Freund sein.«

Der Hirsch sagte: »So soll es ein.«

Später, nachdem der Sonnengott mit seinem Strahlenkranz untergegangen war, gingen beide zur Wohnung des Hirsches. Dort saß auf dem Ast des Baumes Champaka die Krähe Subuddhi, der alte Freund des Hirsches. Als die Krähe die beiden zusammen kommen sah, sagte sie: »Freund Chitragreeva, wer ist der Andere?«

Der Hirsch antwortete: »Das ist ein Schakal. Er hat den Wunsch, unsere zu unserer Freundschaft zu gehören.«

Die Krähe sagte: »Freund! Die Freundschaft mit einem, der ganz plötzlich erscheint, kann nicht richtig sein.«

Einem, dessen Familie und Charakter nicht bekannt sind,
darf Schutz nicht gewährt werden.

Aus dem Hitopadesha
Übersetzung (aus dem Englischen): H.D.Radke