Mittwoch, 30. September 2015

Falke und Sperling


Nummer 2 handelt vom Adler, oder wohl richtiger Falken und Sperling. Auch diese hatten mit einander Freundschaft geschlossen. Eines Tages machte der Sperling dem Falken in seiner Wohnung einen Besuch. »Schön, dass du kommst,« sagte der Falke, »warte hier ein Weilchen auf mich, ich will ausgehen und etwas für uns zum Essen kaufen«. So erhob sich denn der Falke in die Lüfte, und als er unten einen Mann vorübergehen sah, der eben in einem Schlächterladen ein halb Pfund Fleisch gekauft hatte, stiess er hernieder und raubte es ihm aus der Hand. Dann flog er zurück in seine Wohnung, und er und der Sperling brachten den Tag essend und trinkend vergnügt mit einander zu.

Nach einiger Zeit machte der Falke dem Sperling einen Gegenbesuch in des letzteren Wohnung. »Schön, dass du kommst«, sagte der Sperling, »warte hier ein Bischen auf mich, ich will auch auf die Strasse gehen und etwas für uns zu essen kaufen«. So flog er denn auf die Strasse und sah einen Mann, welcher ein viertel Pfund Fleisch in der Hand hielt, welches er soeben in einem Schlächterladen gekauft hatte. Er flog also hin, um es fortzunehmen; da er aber so klein und schwach war, so konnte er es dem Mann nicht entreissen, sondern er sass nur darauf mit unruhig flatternden Flügeln. Der Mann aber sprach: »Vor einiger Zeit, als ich mir ein halbes Pfund Fleisch gekauft hatte, hat ein Falke es mir geraubt, und heute kommst du, mir dies viertel Pfund Fleisch zu entreissen? Warte! ich will dir einen Denkzettel erteilen.« So sprechend, riss er dem Sperling seine sämtlichen Federn aus, und warf ihn dann auf die Erde. Inzwischen wunderte sich der Falke, dass der Sperling gar nicht zurückkam. So flog er denn aus, ihn zu suchen, und nicht lange; so fand er den armen Wicht nackt auf der Erde liegen, unfähig, die Flügel zu regen. Er erschrak und- fragte ihn: »Was ist dir denn passiert?« »Ach,« erwiderte der Sperling, »der Mann mit dem Fleisch wollte durchaus keine Vernunft annehmen; da habe ich mir eben den Rock ausgezogen, um ihm eine tüchtige Tracht Prügel zukommen zu lassen, dem Buben!«

Auch diese kleine Fabel zeigt eine entschiedene Localfarbe; nichts ist in den Strassen chinesischer Städte gewöhnlicher, als die sich zu einer Rauferei Anschickenden sich zunächst ihrer sackartigen, weiten, jede freiere Bewegung hemmenden Gewänder entledigen zu sehen, um dann den ersten Angriff gegen den Zopf des Gegners zu richten, gerade wie in unserer Geschichte der Fleischkäufer dem Sperling die Federn ausreisst.

Arendt, C.
Moderne chinesische Tierfabeln und Schwänke
In: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang, 1891

Donnerstag, 17. September 2015

Die Regenwürmer

 
Ein Maulwurf trennt und hebt den Grund.
Ein Regenwurm, der Noth empfund,
Warnt seine Brüder, als Beschirmer.
Ein jeder folget seinem Rath,
Und kriecht herfür. Was bringt die that?
Ein Hun erscheint, und frißt die Würmer.

***

Die Frucht, für ungewisse Noth,
Bringt manchem den gewissen Tod.

Neue Fabeln und Erzählungen
nebst einer Vorrede,
Sr. Wohlgeb. Herrn
Daniel Wilhelm Triller
Phil. er Med. Doct. Königl. Pohln. und Churfürstl. Sächs. Hofraths, profess. Med. Publ. Ord. auf der Universität zu Wittenberg, und der Akademie der Wissenschaften zu Bologna Mitglieds.
Leipzig und Bremen, bey Hermann Jägern. 1752

Donnerstag, 10. September 2015

Der Pfau


Einstmals gingen ein Pfau und eine Pfauhenne freundschaftlich zusammen, und da sie sich nicht begatten konnten, machte der Pfau die Bewegung des Begattens und ging dreimal um die Henne herum. Da er dabei eine Thräne vergoss, so fing die Henne diese, ehe sie zur Erde fiel, in ihrem Schnabel auf und verschluckte sie.

Einst dachte der Pfau so: »Kein Geschöpf ist so schön wie ich; indem die Menschen meine Federn anstecken, erlangen sie einen Rang, und mein Futter sind giftige Schlangen«. Während er so sich brüstend dort stand, kam plötzlich ein Geier listig herbei und holte ihn. So war die List sehr mächtig.

Der Pfau ist in der Fabel oft das Bild der Eitelkeit und Thorheit, wie in der von Schiefner, Mélanges asiatiques Bd. VIII, S. 101 mitgeteilten Geschichte, aber andererseits auch das symbol der geistigen Schönheit, Reinheit und Tugend, wozu m,an die Erzählung von dem Pfauenkönig Suvarnaprabhase (Goldglanz) vergleiche.

Aus einer unveröffentlichten Handschrift der Königl. Bibliothek zu Berlin mitgeteilt von B. Laufer
(Fünf indische Fabeln, aus dem Mongolischen von Hans Conon von der Gabelentz)
Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft
Bd. 52 (1898)