Montag, 15. Juni 2015

Der Indianer

Die IV. Fabel

Ein Indianer war zu großem Reichthum kommen,
Und daher hatt ihn auch der Hochmuth eingenommen.
Er wünschte Stadt- und Land- und Weltbekannt zu seyn.
Mit diesem Kummer schlief er oft sehr mühsam ein;
Er pflegt auch manche Nacht zu wachen,
Und hatte stets dabey den Ruf zum Augenmerk.
Er wollte durch ein großes Werk
Sich einen großen Namen machen.
Inmittelst kam die Nachricht an,
Daß der Monarch von Indostan,
Der große Mogul, sich hieher erheben wollte,
Und daß man darum auch die Wege bessern sollte.
Der Ruhmbegierige fand hier Gelegenheit,
Den länstgehegten Wunsch im Werk erfüllt zu schauen.
Er ließ in der Geschwindigkeit
Gleich eine große Brücke bauen;
Sechs hundert Ellen lang und sieben Ellen breit,
Von einem Berge auf den andern.
Warum denn? War etwa der Strom zu schnell, zu tief,
Der zwischen beyden Bergen lief?
Und mußte dieser Bau vielleicht aus Noth geschehn,
Um trocken drüber hin zu wandern?
O nein! Kein Wasser war zu hören und zu sehn.
Drum wußt auch niemand sich hierinnen
Des Mannes Endzweck auszusinnen.
Daher entstund von ihm der allgemeine Wahn:
Er wäre nicht mehr bey Verstande.
Inzwischen kam sein Herr der große Mogul, an;
Der sprach: Was soll denn hier die Brück auf trocknem Lande?
Welch Bauherr hat sein Geld so närrisch angelegt?
Man sagte: Der und der. Der Kaiser trug Verlangen,
Aus dessen Munde selbst die Nachricht zu empfangen,
Was ihn zu diesem Bau bewegt.
Man rief. Er kam und fiel dem Mogul zu den Füssen.
Der Kaiser, voller Neubegier,
Begehrte nun von ihm zu wissen,
Was er doch immermehr mit dieser Brücke hier,
Auf trocknem Lande, haben wollt.e
Der Bauherr neigte sich, und sagte keck und frey,
Daß weiter nichts, als dieß, sein Zweck gewesen sey,
Daß Ihro Majestät nur nach ihm fragen sollte.

* * *

Wir würden in der Welt manch großes Werk entbehren,
Wenn in Europa nicht auch Indianer wären,
Die durch den größten Bau nichts anders haben wollen,
Als daß die Leute nur nach ihnen fragen sollen.

Daniel Stoppe
Neue Fabeln oder moralische Gedichte
Der Jugend zu einem nützlichen zeitvertreibe aufgesetzt
Band 2
1745

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