Dienstag, 26. Mai 2015

Die Fliegen Bunnyyarl und die Bienen Wurrunnunnah


Die Bunnyyarl und Wurrunnunnah waren Verwandte und lebten zusammen im selben Orte. Die Wurrunnunnah waren fleißig und arbeiteten tüchtig, um rechtzeitig viele Vorräte einzusammeln und sie für die böse Zeit der Hungersnot aufzuspeichern. Die Bunnyyarl bekümmerten sich jedoch nicht um die Zukunft; sie vergeudeten die Zeit mit Spielen und Possentreiben und dachten gar nicht daran, ebenfalls Vorräte einzusammeln.
Eines Tages sagten die Wurrunnunnah: »Kommt mit und holt den Honig aus den Blumen! Bald ist der Winter da, dann gibt es keine Blumen, und ihr könnt keinen Honig mehr einsammeln!«
»Nein,« antworteten die Bunnyyarl, »wir haben uns hier um andere Dinge zu kümmern.«
Sie gingen fort und überlegten sich, was sie nun wohl für neue Dummheiten aufstellen können; sie glaubten ja, daß die Wurrunnunnah nachher doch ihre Vorräte mit ihnen teilen würden. Die Wurrunnunnah taten also die Arbeit allein und überließen die Bunnyyarl ihren Nichtsnutzereien. Sie besuchten alle Blumen, trugen den Honig ein und kehrten nicht wieder zu den Bunnyyarl zurück. Sie waren es überdrüssig geworden, stets alle Arbeit für diese Faulpelze zu tun.

Und später wurden die Wurrunnunnah in kleine, wilde Bienen und die faulen Bunnyyarl in Fliegen verwandelt.

Paul Hambruch
Südseemärchen
Jena 1916

Die Jagd des Lebens

Es war einmal ein Jäger, der ging zu Wald in eine öde Wildnis, dort zu jagen. Da kam er einem Tiere auf die Fährte, als er dieses aber endlich entdeckte, wünschte er es nimmermehr gesehen zu haben, denn es war ein mächtiges Einhorn, welches sich gegen ihn stellte. Eilig wandte er sich zur Flucht, und stets verfolgte ihn das Einhorn, bis er auf eine steile Felswand kam, deren schroffen Abhang tief unten die Wellen eines dunklen Sees bespülten. In dem See schwamm ein ungeheurer Drache, der den Rachen gähnend aufriß, und plötzlich glitt der Jäger aus und wäre gerade hinab in den See und in des Drachen Schlund gestürzt, wenn er nicht an einem einer Felsritze entsproßten Strauch sich festgehalten hätte. Da war nun des Jägers Lage eine todängstliche. Droben stand, wie ein Wächter, das schreckliche Einhorn, drunten lauerte auf seinen Hinabsturz der greuliche Seedrache. In dieser Not ward seine Angst und Qual aber noch vermehrt, denn mit einem Male erblickte er zwei Mäuse, eine weiße Maus und eine schwarze Maus; die begannen an den Wurzeln der Staude zu nagen, und der Jäger vermochte nicht, sie hinwegzuscheuchen, weil er sich mit beiden Händen anhalten mußte. So mußte er jeden Augenblick gewärtig sein, daß die Wurzeln des Strauchs diesen nicht mehr halten würden. Über ihm stand ein Baum, von dem träufelte süßer Honig nieder, und gar zu gern hätte der Jäger diesen Baum erlangt, denn damit meinte er aller Qual erledigt zu sein, und über den Baum vergaß er aller ihm drohenden Gefahr. Wir wissen nicht, ob es ihm gelungen, aus seiner dreifachen Qual erlöst zu werden, oder ob die Mäuse des Strauches Wurzeln ganz abgenagt.

Der alte Dichter dieser Märe gibt ihr eine allegorische Deutung, indem er sagt: Der Jäger, das ist der Mensch, und das Einhorn, das ist der Tod, der ihm begegnet, ehe er es vermeint, und ihn immerdar verfolgt. Die steile Felswand ist die Erde, und der Strauch ist das Lehen, daran der Mensch nur mit schwachen Banden hängt. Die weiße und die schwarze Maus, welche das Leben an der Wurzel benagen, sind Tag und Nacht oder die rastlose Zeit, die an unserm Leben zehrt. Der dunkle See ist die Hölle, und sein Drache der Teufel, die darauf lauern, daß der Mensch falle und in ihren Rachen stürze. Der Honigbaum aber ist die Liebe, die das Leben versüßende, welcher der Mensch zustrebt und sie zu erlangen hofft zwischen Not und Tod, zwischen Qual und Pein, keiner Gefahr achtend, und mit deren Erringung er seine irdische Seligkeit findet. Doch soll der Mensch sich täglich hüten, da die Mäuse ihm an der Lebenswurzel zehren, daß er nicht in den See des Verderbens falle.

Ludwig Bechstein

Mittwoch, 13. Mai 2015

Der kranke Löwe

Der Löwe, sagt man, war krank; da gingen sie Alle, ihn in seinen Leiden zu besuchen; der Schakal aber ging nicht hin, weil die Spuren der Leute, die hingingen, um ihn zu besuchen, nicht wieder zurückkehrten. Da wurde er von der Hyäne bei dem Löwen verklagt. »Obschon ich gekommen bin, Dich zu besuchen, will doch der Schakal nicht kommen, Dich (wörtlich: den Mann) in Deinen Leiden zu besuchen.« Da schickte der Löwe die Hyäne, um den Schakal zu fangen. Das that sie und brachte ihn vor den Löwen. Der Löwe fragte den Schakal: »Warum kamst Du denn nicht, nach mir zu sehen?«

Der Schakal gab zur Antwort: »Bitte, lieber Onkel; als ich hörte, daß Du so schwer krank seiest, ging ich zum Zauberdoktor, um Rath zu holen und ihn zu fragen, was für eine Arznei meinem Onkel von seinen Schmerzen helfen würde. Der Doctor aber sagte so zu mir: »»Geh und sage Deinem Onkel, er möge die Hyäne ergreifen, ihr das Fell abziehen, und, wenn es noch warm wäre, es anlegen; dann werde er besser werden.«« Die Hyäne ist so nichtsnutzig, daß sie sich gar nicht um die Leiden meines Onkels kümmert.«

Der Löwe folgte diesem Rath, ergriff die Hyäne, zog ihr, während sie aus Leibeskräften heulte, daß Fell über die Ohren und legte es an.

Reineke Fuchs in Afrika
Fabeln und Märchen der eingebornen
nach Originalhandschriften der Grey’schen Bibliothek 
in der Kap-Stadt und andern authentischen Quellen
Von Dr. W. H. J. Bleek
Weimar, 1870

Dienstag, 12. Mai 2015

Kuckuck

Ein Sohn Zanaharys war gestorben. Der Vater rief sämtliche Lebewesen der Erde zusammen, damit sie bei der Bestattung die Trauerlieder sängen. Auf Befehl Zanaharys begannen alle mit dem Gesang, aber bald wurden etliche müde, und man vernahm ihre Stimmen nicht mehr. Nach Verlauf einer Stunde sangen nur noch sehr wenige Trauerlieder. Und nach zwei Stunden hörte man fast keinen mehr. Als die dritte Stunde zu Ende ging, waren alle heiser und stimmlos geworden, nur der Kuckuck sang noch aus vollem Halse. Tag und Nacht sang er, bis Zanahary ihm schließlich Einhalt gebot. Als der Kuckuck ihn nun um eine Belohnung bat, sprach Zanahary: »Ich bin mit dir zufrieden. Hinfort sollst du dir, wenn du Eier legen willst, nicht wie andere Vögel ein Nest bauen; denn du mußt doch jetzt sehr müde sein, nachdem du solange gesungen hast. So sollst du deine Eier denn in die Nester anderer Vögel legen; du darfst ihre hinauswerfen und zerschlagen, damit du Platz für deine eigenen bekommst. Die anderen Vögel sollen die Mühe haben, deine Eier auszubrüten, aber du brauchst es nicht!«

Und so geschieht es denn. Der Kuckuck brütet seine Eier nicht aus, sondern schiebt sie den anderen unter.

Paul Hambruch
Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde
Jena: Eugen Diederich, 1922.

Montag, 11. Mai 2015

Rapunzels Albtraum


Rapunzels Albtraum

Im Turm, im Turm
ich weiß es genau
da darbt und schmachtet
eine junge Frau.

Ihr Haar wächst lang
und immer länger
doch wird ihr dabei
auch immer bänger.

Denn was, so sagt sie
soll all dies Mühn.
wenn kein Fenster da ist
es heraus zu tün?

Kein junger Mann
wird kommen und schrein
dein Haar, herunter.
So lässt sie es sein.

HDR

Donnerstag, 7. Mai 2015

Die zerrissene Eidechse


Horch! mitten von einander riß die Eidechse,
Die sich der Schlang’ an Länge wollte gleich machen.

Babrios und die älteren jambendichter
Griechisch mit metrischer Uebersetzung und prüfenden und erklärenden Anmerkungen
von
Johann Adam Hartung
Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig, 1858

Mittwoch, 6. Mai 2015

Der Leopard und das Eichhorn

Ein Eichhorn, das auf seiner Fahrt
Von Baum auf Baum zephyrisch hüpfte,
Verlor den Kopf, sein Fuß entschlüpfte,
Es fiel auf einen Leopard,
Der in dem Schatten einer Eiche
Der Ruhe pflegte. Der Gigant
Fuhr brüllend auf. Bereits halb Leiche
Vor Schrecken, fiel der Arrestant
Auf seine Kniee, bat um Gnade
Und machte sich gar winzig klein
Vor seiner Hoheit. „Arme Made!“
Rief dieser, den die Todespein
Des Zwergs zur Huld bewog, „Dein Leben
ist mein; ich schenke dirs; allein
Zuvor mußt du Bescheid mir geben,
Warum du stets so fröhlich bist,
Indeß mich, Prinzen vom Geblüte,
Der Uueberdruß und Mißmuth frißt?“ –
„Herr!“ sprach das Eichhorn, „Deine Güte
Macht Wahrheit mir zur Pflicht; doch hier
Spricht sichs nicht gut; ich quetschte mir
Bei meinem schweren Fall die Lunge;
Laß mich ins Freie.“ – “Nun, es sey,“
versetzt der Prinz, und gab es frei.
Das Eichhorn maß mit einem Sprunge
Den Baum, und sprach vom höchsten Ast:
„Du wolltest mein Geheimniß wissen;
Hier ists: Ein Gut, das du nicht hast,
Das deines Gleichen stets vermissen,
Erhält mein Herz bei heitrem Muth.“ –
„So nenne mir dies edle Gut.“ –
„Es heißt: ein ruhiges Gewissen.“

Gottlieb Konrad Pfeffel
Fabeln und poetische Erzählungen
Band 1

Sonntag, 3. Mai 2015

Die Hühnlein

Kind.
Wo seid ihr alle denn versteckt,
ihr Hühnlein? Keins hab ich entdeckt
Bis jetzt, und bring doch Futter mit.
Hört ihr nicht den bekannten Tritt?
Hört ihr nicht den bekannten Ton?
bi bi, bi bi – da sind sie schon!

Hühnlein.
Wir waren nur da hinterm Haus,
Und suchten gute Würmlein aus.
Was du uns bringst, schmeckt süßer noch,
Die Körnlein sind das Beste doch.
Geh jetzt nur dort zum Häuschen hin,
Du findest unsre Eier drin.
Fünfzig Fabeln und Bilder
aus der Jugendwelt.
Von
Wilhelm Corrodi
Zürich, 1876, Zweite Auflage

Freitag, 1. Mai 2015

Der Wanderer und das Irrlicht

Ein Wanderer sah des Nachts auf seinem Wege ohnweit von sich ein Irrlicht; ging ihm gradezu nach; kam vom rechten Pfade ab, und versank bis über die Knöchel in einem tiefen Sumpfe.
Ha, verwünschtes, vermaledeites Trugbild, rief er aus: warum mußtest du mich hierher führen?”
“Ich dich geführt? erwiderte das Irrlicht. Um Verzeihung, ich verdiene diesen Vorwurf nicht. Du gingst mir ia freiwillig nach. Niemand, als du selbst, gab dir den Rath, mir zu folgen.”

Gern schiebt der Mensch im Unfalle die Schuld auf einen andern. Aber er prüfe sich genauer, und er wird größtentheils finden, daß er selbst davon die Quelle sey.

A.G. Meißner
Fabeln in VIII Büchern
Berling 1807