Montag, 15. Dezember 2014

Der Reiher und der Krebs


Bei irgend einem fischreichen Teiche war einmal ein Reiher, den die Fische flohen, sobald sie ihn nur erblickten. Da er sie also nicht fangen konnte, log der falsche Reiher den Fischen vor: »Ein Mensch, der Fische zu töten pflegt, ist hier angelangt mit einem Netz; er wird euch in seinem Netze fangen und in kurzer Zeit alle vernichten. Deshalb tut nach meinen Worten, sofern ihr mir glaubt. An einem einsamen versteckten Orte ist ein kleiner Teich, den Fischern unbekannt, dahin will ich euch einzeln hinbringen und hineinwerfen, daß ihr dort wohnen mögt.« Voll Furcht riefen die törichten Fische: »Tue so! Wir haben volles Zutrauen zu dir!« Da nahm der hinterlistige Reiher die Fische einen nach dem andern und legte sie auf einen Felsboden nieder, wo der Betrüger ihrer eine Menge in Gemächlichkeit auffraß.
Ein Krebs, der in diesen Teich kam, sah, wie der Reiher die Fische forttrug und fragte ihn: »Wohin trägst du die Fische?« Der Reiher wiederholte ihm, was er den Fischen vorgeschwindelt hatte, und der erschrockene Krebs bat ihn, er möge ihn ebenfalls dorthin bringen. Der Reiher, den die Aussicht nach dessen Fleisch reizte und verblendete, nahm ihn auf und flog mit ihm nach der Schlachtbank; als der Krebs aber die Gräten der verzehrten Fische dort bleichen sah, erriet er, wie schmählich sie alle getäuscht seien und daß der Reiher sich von ihrer Vertrauensseligkeit mäste. Kaum hatte der Reiher den Krebs auf den Felsboden niedergelegt, so riß der schlaue Krebs ohne Säumen dem Reiher den Kopf ab. Zurückgekehrt, erzählte er es den übrigen Fischen, die ihn hocherfreut als ihren Lebensretter begrüßten.
*
Denn die Klugheit ist eine Macht; wozu nützt die Stärke dem Unklugen?

aus: Indische Erzählungen
Aus dem Sanskrit zum erstenmal ins Deutsche übertragen
von Dr. Hans Schacht,
1918, Lausanne und Leipzig

Donnerstag, 16. Oktober 2014

Der Bär, der Fuchs und der Spervorgel


Der Bär war in die Fremde gegangen. Unterdessen hatte sich ein Spervogel *) oder Sperling am Eingang der Bärenhöhle sein Nest gebaut, und als der Fuchs, des Bären Hausmeier, ihn aufforderte, den Ort zu verlassen, lachte er und behauptete dreist, der ganze Wald und auch die Höhle gehöre ihm zu eigen.
Eines Tages kehrte der Bär von seiner Wanderschaft zurück und wollte von seiner Höhle wieder Besitz ergreifen. Der Fuchs aber war dem Heimkehrenden entgegengegangen, um ihn zu bewillkommen. Er teilte dem Bären auch mit,d aß eine Sperlingsfamilie am Eingang der Höhle ihr Nest gebaut und daß es dort sehr laut hergehe.
»Mein Freund,« sprach der Bär, »weißt du auch gewiß, daß es nur Sperlinge sind?«
»Ja, herr, es ist ein elender, schwacher Spervogel mit seinem Weib und seinen fünf Jungen.«
»Ein Tier, das sich in meine Höhle wagt, ist sicher kein schwaches, elendes Tier, sondern ein starker, gefährlicher Feind, vor dem ich mich zu hüten habe. Mir grauet vor dem Abenteuer; es wird nicht gut ablaufen.«
Auch der Spervogel hatte erfahren, daß der Bär im Anzug sei, und er sprach zu seiner Fra:
»Liebes Weib, heute oder morgen wird der Bär kommen, um von seiner Höhle Besitz zu ergreifen. Aber den dummen Bären wollen wir schön anführen. Tu nur genau alles, was ich dir sage.« und dann hielt er lange Rücksprache mit der Sperlingsfrau.
Am  Nachmittag kam der Bär mit dem Fuchs und wollte seine Höhle beziehen.
»Hört Ihr das Geschrei der Spervögel?« fragte der Fuchs.
Der Bär winkt eihm zu schweigen, denn eben erhob der alte Spervogel seine Stimme. »Was haben denn die Kleinen, daß sie so grausam schrien?« fragte er seine Frau.
»Hunger haben sie,« war die Antwort.
»So gib ihnen doch von dem Bärenfleisch zu essen, das wir vorrätig haben,« sprach der Sperling.
»Ach,« sagte das Weibchen, »das Bärenfleisch ist von gestern, und die Jungen wollen frisches. Warum hast du die Leckermäuler so verwöhnt?«
»So vertröste sie auf morgen,« sprach der alte Spervogel wieder. »Der Bär, der diese Höhle sonst bewohnt, kommt heute zurück, und mein Freund, der Fuchs, hat mir versprochen, ihn mit List hierher zu bringen. Wenn das geschieht, will ich den Bären umbringen, und unsere Kleinen sollen sich morgen an frischem Bärenfleisch erlustigen.«
»Wie das der Bär hörte, gab er dem Fuchs mit seiner Tatze einen Schlag, daß dieser das Aufstehen vergaß. Dann packte er seine sieben Sachen zusammen, verließ die Spervögel, die Höhle und den Wald, ging in die Stadt und wurde Tanzbär.

Rudolf Baumbach
aus: Neue Märchen, Stuttgart und Berlin 1903, S. 159 ff.

*) Spervogel ist nicht nur ein anderer Name für den »Sperling«, sondern auch ein hochmittelalterlicher Minnesinger (nach 1170), der in der Manessischen Liederhandschrift
Nachdem es nun eine Weile still war in diesem Blog, geht es demnächst weiter. Fabeln und Fabelhaftes gibt es ja genug.