Sonntag, 14. April 2013

Die zwölf Statuen


 
Es war einmal ein Steinmetz, der bekam vom König den Auftrag ihm die perfekteste Frauenstatue zu meißeln, die es je unter der Sonne gegeben hatte. Der König wusste natürlich, wem er diesen Auftrag in die Hände gelegt hatte. Es war einer seiner begabtesten Bildhauer im ganzen Reich.
Der Bildhauer machte sich also an die Arbeit und kam recht gut voran. Einzig und allein im Gesicht der Schönen begann er sich gewissermaßen fest zu klopfen. Wenn er mit halb geschlossenen Augen zurücktrat und blinzelte, mochte das Antlitz schon durchgehen aber wenn er genauer hinschaute, bemerkte er dass der Mund noch ein wenig zu schief, die Nase zu kurz und die Augenbrauen zu tief angesetzt waren. Er konnte dieses Kunstwerk keinesfalls dem König anbieten. Darüber geriet er in eine derartige Wut das er mit seinem Meißel und seinem Hammer auf sein Werk losging, um es restlos zu zerstören. In diesem Moment sprach die Statue zu ihm: »Lass gut sein Meister, lass mich unversehrt, stell mich einfach in die hinterste Ecke deiner Werkstatt und fange noch einmal von vorne an.« Es fiel dem Steinmetz sehr schwer, denn er mochte die Fehler an seiner Arbeit nicht wieder und wieder sehen, aber er befolgte den Rat der Steinfrau, bezwang seine Wut und tat wie ihm die Statue geheißen.
In den folgenden Wochen meißelte der Steinmetz insgesamt noch elf weitere Frauenbilder, von denen der jeweils, sobald er einen unwiderruflichen Makel bemerkte, seine Arbeit unterbrach, aufhörte und die misslungene Steinfrau zu der ersten in die Ecke schob.
Schließlich und endlich gelang es ihm, mit der zwölften Statue die Frauenskulptur in Stein zu meißeln, der es an nichts mehr fehlte und die in seinen Augen keinen Makel mehr aufwies. Erleichtert, stolz und zufrieden benachrichtigte er den König, er könne nun sein Werk besehen und es abholen lassen. Der König kam höchstpersönlich in die Werkstatt und sah, als der Steinmetz das Tuch vom letzten Kunstwerk herunterzog, die anderen elf Versuche im hinteren Teil der Werkstatt.
»Was ist das?« Fragte der König den Steinmetz, ohne einen genaueren Blick auf die zwölfte zu werfen
»Das sind meine verfehlten Versuche.« Der Steinmetz schämte sich ein wenig dafür, dass jemand anderes all die Stümpereien entdeckt hatte.
»Stell sie hier auf!«, befahl der König »Ich möchte sie alle einmal sehen.«
Nachdem der Steinmetz die Reihe der weißen Frauen in seiner Werkstatt aufgestellt hatte, schritt der König das Spalier der Stein gemeißelten Schönen auf und ab, begutachtete diese, berührte jene und blieb hier und da stehen, um nachdenklich den Kopf zu wippen.
»Ich kann mich nicht entscheiden, lieber Steinmetz, die Auswahl ist zu groß und mal gefällt mir das Gesicht der einen mehr, und ein andermal die grazile Haltung der Anderen, jetzt wiederum zieht mich das Lächeln jener dort an.«
Der Steinmetz zuckte mit den Schultern und wartete ab, was sein Auftraggeber entscheiden würde. Da fuhr König fort: »Du bist der Meister, lieber Steinmetz, und darum frage ich dich: welche von den Frauen hier ist für dich die Schönste?«
Schon wollte der Steinmetz auf die Zwölfte zeigen, da fiel ihm auf, dass ihn der König nicht nach der makellosesten, sondern nach der schönsten Frau seiner Sammlung gefragt hatte. Sein Blick fiel auf das Lächeln, dass ihn damals so in Wut versetzt hatte, weil es ein wenig zu schief geraten schien und er antwortete ohne zu Zögern: »Die Erste.«

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