Montag, 22. April 2013

Die Tagediebin



Sie hat vergessen, warum sie in diese Stadt mit dem nach Schweiß und gasigem Atem, nach faulenden Hölzern stinkenden Fluß und den engen Straßen gezogen war.

Sofia wohnt in einer Pension. Außer ihr gibt es keinen anderen Gast. Ihr Raum ist der kleinste im Haus. Er grenzt an Kammern, in denen gestapelter Hausrat nach Vergangenem riecht. Eine Lattentür führt zum Dachboden mit abgelegten Gedanken von Menschen, die niemand mehr kennt.
Manchmal öffnet sie in der Morgendämmerung die Fenster, holt sich den jungen Tag, saugt seine Stimmung mit Augen, Nase und Mund ein. Er faltet sich auseinander, bringt Erdgeruch und den fliegenden Duft von Blättern und Blüten mit. Immer mehr Tag springt herein, flattert in Spinnennetzen, weht den Staub durcheinander und lacht Sofia an.

Nach Waldmeister riechendes Gras erinnert sie an eine verlorene Zeit. Der scheinbar unbenutzte Tag macht sie glücklich. Dabei vergißt sie, dass er weiterzieht, nicht bleibt. Um ihn zu halten, riecht sie am Bett, am Tisch, am Schrank, an den Wänden. An ihnen haftet Harz und schwebende Öle aus den Nadelwäldern. Mit den Fingerspitzen zerreibt sie gefundenen Duft, mischt ihn mit Rosmarin und Vergißmeinnicht, die eingetopft auf der Fensterbank stehen. Kaffeearoma zieht unter das Dach, in das Zimmer, ihm kriecht malziges von frisch gebackenem Brot hinterher. Fettiger Dunst hängt sich dran, von Speck oder Schinken. Dahinter die Angst eines verwursteten Schweines, ertränkt in Glutamat und Nitrit. Das Gleichgewicht der Stunde ist durcheinander und der Tag riecht nur noch banal.

Da atmet Sofia Zorn, die Reinheit ihres Tages ist zerstört. Was jetzt noch hereinzieht, ist nur zum Atmen gut. Sie reißt die Zimmertüre auf, nimmt einen hingestellten Teller mit Brot und schleudert ihn die Treppe hinunter.
Kreischend werden Nackenmuskeln hart. Ihre Augen brennen, und  Nerven schneiden ins Gehirn, Sofia rennt vor den Modergerüchen aus der Küche fort.
Im Freien krallt sie die Luft, packt sie mit den Fäusten, stopft sie in den Mund. Aber sie ist schon zersetzt von Menschengestank. Und doch ist es besser als im Zimmer, im Haus, sie rennt den Weg zum Fluß, legte sich ans Ufer, kriecht wie ein Hund zum Wasser, und taucht den Kopf hinein. Auf dem Boden des Uferweges kann sie das beruhigende Erdatmen nicht wahrnehmen. Augen, Nase und Ohren sind zugeschwollen.
Nach vielen Stunden wacht sie auf, riecht Holzkohlenqualm. Mit Bratwurstsucht läuft sie zu einer Bude, nimmt weder Geruch noch Geschmack wahr, rennt mit wehenden Haaren durch viele Straßen.

Als Sofia wieder riecht und hört, schnuppert sie an den Händen, die nach verbranntem Fett schmecken.
***

Grünflirrende Sonne verführt Sofia, sich endlich ihren eigenen Tag zu fangen, zu stehlen und seinen Duft aufzubewahren.
Sie erinnert sich an Feuer, an den Glanz besonderer Tage, beginnt ihr Zimmer von Überflüssigem zu befreien, rollt den fremden Teppich mit eingetretenen Gerüchen nach stumpfen Staub und Menschen zusammen. Schleppt ihn zum Speicher, öffnet eine Truhe, findet einen Anzug. Abgestorbene Hautschuppen rieseln auf Gesicht, Hals und Hände.

Sie wollte nur eins, sie wollte ihren Tag, wartete ungeduldig, beobachtete Abends und Morgens den Himmel, roch an der Luft. Viele Tage ließ sie vorbeigehen, denn keiner von ihnen war ihrer.
Nach einer Nacht mit zunehmendem Mond strömte neu geborener Morgenduft in ihr Zimmer. Er legte sich auf ihre Nase und ihren Mund und sie malte ihn mit den Fingern nach. Sofia schmückte Arme und Hals mit Silber, zog Kleider in den Farben des Regenbogens übereinander. Alle Fenster riß sie auf, verschloß die Tür. Ihr Tag zog strahlend mit rotorangenem Frühlicht herein, wirbelte umher, breitete vor Sofia den Duft von Zimt und Mandeln, von bitterwürzigen Blättern der Linden und Birken, von sterbenden Blüten aus. Geruch nasser Gräser hing im Raum, vermischte sich und alles destillierte sich in herber Klarheit. Sie empfing ihn mit geöffneten Armen, roch, schmeckte, er schien vollkommen.
Aber - ein Hauch fehlte.
Sie schrie ihn an, „mach, gleich wachen die Menschen auf und alles ist umsonst!“
Und da kam er wirklich, leise, schwebend, Hauch des fernen Meeres, den günstige Winde getragen hatten. Glücklich zog sie sich aus, damit auch ihre Haut zu einem einzigen Duft wurde. Ihr Tag schenkte ihr seine Zeit, seine Düfte, deckte gegen Abend Sofia mit Spuren gewelkten Flieders, mit hereingewehten Linden- und Birkenblättern zu.
Als seine Stimmung leiser wurde, Zimt- und Mandeldüfte verblaßten, der Hauch nach Meer weiterzog, tanzte er in die Sichel des Mondes und ließ die Nacht herein.


 

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