Dienstag, 1. Januar 2013

Neujahrs-Epistel

an
meinen Freund Weinhändler


Das alte Jahr ist nun entflohn,
Der alte Wein ist meist vertrunken;
In deinen leeren Fässern nisten schon
Die Spinnen und die Keller-unken:
Doch in den vollen braußt ein junger Most, der nicht
Den schlimmsten Elbler dir verspricht.

Er halte dir, was er versprach!
Von Schwefel rein, von Hausenblas‘ und Kreide,
Werd‘ er dein Lieblingsfaß, und nach und nach
Dein Ehrenwein, als deiner Kundschaft Freude!
Gott Bacchus schenk euch beyden manches Jahr,
Stets feurig und gesund, auch immer hell und klar!

Hier hast du nun ein Neujahr-Angebinde
Aus meinem Musenfaß.
Doch, wenn nun auch in dir, zum Gegenangebinde
ein christlich feiner Wunsch entstünde,
Und, Freund du wüßtest nicht gleich was? –
So zapf‘ ein Epigramm aus deinem Mutterfaß!


Karl Friedrich Kretschmans
sämtliche Werke
Sechster Band
Fabeln, Allegorien und neueste Gedichte
Leipzig 1799

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