Dienstag, 19. November 2013

Prinzessin und Einhorn

Ein neues Lied von Jörg Lingrön: Prinzessin und Einhorn.

Freitag, 30. August 2013

Sengijn Erdene

Es gibt nicht viele mongolische Schriftsteller, von denen es deutsche Übersetzungen gibt. Einer der wenigen ist Sengijn Erdene (1929 - 2000). Er stammte aus einer Familie von Viehhütern, studierte in Ulan Bator Medizin, arbeitete als Psychiater und war Leiter des Schriftstellerverbandes. Von 1965 - 1979 war er Chefredakteur der Zeitung „Kunst und Literatur“. Seine beiden Erzählungen Die Frau des Jägers und Das Ende des Serüün-Tempels sind in der Übersetzung von Renate Bauwe erschienen.


Sonntag, 11. August 2013

Die Stimme des Adlers

Ein weiterer Film, der in der Mongolei spielt, ist »Die Stimme des Adlers«, des dänischen Dokumentarfilmers Rene Bo Hansen. Geschildert wird die Geschichte eines Jungen, der einen wertvollen Adler seines Vaters, einem Adlerjäger, entfliegen lässt. Er versucht, den Adler wieder einzufangen und gerät dabei in manche Abenteuer. Zuletzt folgt er seinem älteren Bruder in die Stadt. Wie die anderen Filme, die Geschichten aus der Mongolei erzählen, ist es ein über weite Strecken ein ruhiger Film, der keine Hektik und Action braucht, um das Interesse und die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu fesseln.


Donnerstag, 8. August 2013

Die verrätherische Trompete

(c) Claus Müller

Im Süden Indiens lebte ein reicher Mann, der einen sehr einfältigen Sohn hatte. Nach dem Tode seiner beiden Eltern gelangte dieser junge Mann in den Besitz eines ansehnlichen Vermögens und heiratete ein treffliches Weib. Weil er nun ohne allen Umgang lebte und sehr beschränkten Verstandes war, kam er gar nicht nach aussen, band nie seinen Gürtel um, kurz er verliess zu keiner Zeit sein Haus. Da waren einmal bei einer Gelegenheit aus irgend einer Gegend her zahlreiche Kaufleute dahin gekommen, mit welchen die Frau einen Handel abschloss. Nachdem diese Kaufleute abgezogen waren, legte die Frau an jener Stelle das Gefieder eines Greifs nieder. Darauf sprach sie zum Manne: »Zwar verstehst du nicht zu handeln; warum aber sollte, wenn du geschäftig aus- und eingiengest, sich nicht etwas erwerben lassen? ist ja der zu erwerbende Gewinn für den Mann ein offenes Feld! Womit sollen wir, wenn das vom Vater überkommene Vermögen erschöpft ist, unser Leben fristen? Geh hinaus und wende dich nach jener Stelle, wo die Kaufleute gewesen«. Als der Mann diesen Worten gemäss ausgegangen war, fand er die zwei Flügel des Greifs und nahm sie in grosser Freude mit sich nach Hause. »Deine Worte«, sprach er zu seiner Frau, »sind wahr gewesen; sieh, ich habe das mitgebracht! Von morgen an will ich auf den Handel ausgehen; gib mir nur den nöthigen Vorrath auf den Weg mit«. Die Frau dachte bei sich: »Auch ohne zu bitten, wäre ihm das gewährt worden«, gab ihm die nöthigen Lebensmittel, lud ihm auf einen Esel Reis auf und mit der Anweisung den Reis zu verkaufen machte sie ihn reisefertig. Des andern Tages in der Frühe sattelte er den Esel und ritt davon. Er erreichte den Strand eines grossen Meeres und gelangte dort zu einer steilen Felswand, welche einer Räuberbande zum Aufenthalte diente. Während er in der hintern Ecke einer Felsenhöhle für seinen Esel einen Platz fand, kletterte er selbst auf ein Felsstück am Eingang der Höhle empor und setzte sich da nieder, seine Mahlzeit zu verzehren. Während er so dasass, kam eine Schaar Kaufleute. Am Eingang der Felsengrotte stappelten sie ihre Waaren auf, in einem Winkel am Ende derselben lagerten sich die Kaufleute selbst, ihre Trompete aber legten sie aus Furcht vor den Räubern über dem Eingang der Felsenhöhle nieder. Weil nun der einfältige Mensch, als er seine Mahlzeit verzehrte, sich gewaltig angegessen hatte, und gegenüber seinem Hintern, der einen Wind fahren liess, gerade die Öffnung der Trompete zu liegen gekommen war, so gab die Trompete einen mächtigen Schall von sich. Die Kaufleute, in dem festen Glauben, die ganze Räuberbande sei angekommen, liessen ihre Waaren im Stich und machten sich in hastiger Flucht auf und davon. Als er des Morgens in der Frühe sich erhob und nirgends auch nur einen Menschen erblickte, lud er sämmtliche zurückgelassene Waaren auf und kehrte damit nach Hause zurück. Alle Leute betrachteten ihn mit Staunen und sprachen unter einander: »Ist der doch reich und mächtig geworden! indem er so viele Feinde besiegt, hat er eine reichliche Beute davon getragen!« Doch seine Frau dachte: »So viel wegzunehmen, dazu hätte er die Kraft nicht im geringsten; wahrscheinlich ist er durch irgend eine Windbeutelei dazu gekommen; durch eine List will ich es schon herausbringen«. Während sie noch so bei sich dachte, sprach der Mann: »Ich will jetzt auf die Jagd gehen«, worauf die Frau sagte: »Wenn du gehen willst, so gerath nur nicht in die Gesellschaft böser Menschen«. »Für mich«, versetzte er, »dürfte nicht leicht jemand unüberwindlich sein!« Die Frau sprach: »Bei weitem stärker als du ist der Held Sûrja-Bagatur; mit ihm nimmst du es nicht auf; der wird dich erschlagen«. Doch mit den Worten: »Vor dem habe ich keine Angst!« setzte er sich auf ein vortreffliches Pferd und ritt davon. Seine Frau bestieg inzwischen ein treffliches Ross, zog Mannskleider an. gürtete sich ein Schwert um, und ohne sich ihrem Manne zu zeigen, kam sie auf einem Umwege ihm zuvor. Kaum hatte er sie nach einiger Zeit auf einer grossen Ebene erblickt, so ergriff er, ohne seine Frau zu erkennen, vor ihr die Flucht; doch die Frau eilte ihm nach, erfasste ihn und, ohne einen Laut von sich zu geben, zog sie das Schwert, holte damit aus und jagte ihm einen gewaltigen Schreck ein. Bogen und Pfeile sammt Ross, von welchem er abstieg, überreichte er ihr. Die Frau kam von ihrem Pferde herabgestiegen, setzte sich rittlings auf ihren Mann, und begann, indem sie so auf ihm sass, ihn wie ein Pferd anzutreiben. »Ach«, flehte er wiederholt, »tödte mich nicht, Bogen und Pfeile sammt Ross nimm hin«. »Nun denn«, sprach sie, »so führe deinen Mund mir mitten zwischen die Schenkel, dann will ich dich frei lassen«. »Deinem Worte werd' ich nachkommen«, sagte er, und nachdem die Frau ihre Beinkleider aufgenommen und die Scham sich hatte küssen lassen, liess sie ihn frei. Nachdem die Frau seinen Bogen und die Pfeile umgenommen und auf das Pferd gestiegen war, sprach der Mann ganz traurig: »Du bist gewiss der Held Sûrja-Bagatur!« »Ich bin es in der That«, versetzte die Frau und ritt zurück. Spät nach ihr in der Nacht kam auch der Mann nach Hause. Die Frau fragte: »Wo sind Bogen und Pfeile und dein Ross?« »Heute«, antwortete er, »bin ich mit dem Helden Sûrja-Bagatur zusammengetroffen; weil ich bis zu Ende des Tages mit ihm mich schlagend meine Kraft erschöpfte, so hat er mir Bogen und Pfeile sammt Ross weggenommen«. Die Frau röstete hierauf Getreidekörner zum Essen und setzte sie ihm vor. »Du musst mir«, sagte sie, »ausführlich erzählen, wie ihr beide mit einander gerungen habt?« Als er sich satt gegessen, sprach er: »Ausgenommen dass er bartlos ist, sieht er deinem Vater gleich«. Und als ihn die Frau weiter fragte, fuhr er fort: »Dieser Sûrja-Bagatur ist ein Mensch mit zwei Hintern, am übrigen Körper aber sieht er einem Weibe ähnlich«. Da brach die Frau in Lachen aus.

Bei diesen Worten der Erzählung rief der mit Glück und Wohlstand gesegnete Chân: »So war also das offenbar ein Mensch, der nicht einmal Weib und Mann von einander unterscheiden konnte!« Und Siddhi-K ýr versetzte: »Sein Glück verscherzend hat der Chân seinem Munde Worte entschlüpfen lassen!« und mit dem Ausruf: »In der Welt bleibe ich nicht!« flog er durch die Lüfte davon.


Bernhard Jülg
Mongolische Märchen
Innsbruck, 1868

Dienstag, 6. August 2013

Das Wolfskind

Bildquelle: Wikipedia

Als diese Kaufleute in die Nähe der Residenz des Königs Kütschün-Tschidaktschi kamen und an einem Flussarm das Nachtlager aufgeschlagen hatten, nahten Wölfe und begannen zu heulen. Die Kaufleute pflegten das indische Wolfskind Schalû zu nennen. Daher fragten sie den Jungen: »Schalû, was sagen diese Wölfe?« »Diese Wölfe«, antwortete Schalû, »sind meine beiden Eltern; sie sagen: ›fünf oder sechs Frauen zogen des Weges und liessen dich, als du geboren wurdest, bei uns zurück; da haben wir dich aufgezogen und gross gemacht; ohne unserer Wohlthat zu gedenken, hast du nun mit Menschen dich befreundet? Diese Nacht kommt ein Regen und da der Fluss eine gewaltige Überschwemmung anrichtet, so werden die Kaufleute sich in Sicherheit zu bergen suchen; bei dieser Gelegenheit komm du, unser Liebling, wieder zurück. In der Nähe lauert dir ein Dieb auf‹«. Und in der That lag der Prinz Vikramâditja, in der Absicht einen Diebstahl auszuführen, in der Nähe auf der Lauer. Als er nun hörte, wie Schalû seinen Gefährten die Worte der Wölfe mittheilte, dachte er: »Dieser Kenner der Wolfssprache ist kein gewöhnlicher Mensch. Dass ein Regen kommt, mag eine Lüge sein; aber wie konnte er wissen, dass ich auf der Lauer liege?« Und indem er umkehrte, sagte er: »Dir werde ich alle Nacht aufpassen!« Nach dieser Drohung entfernte er sich. Die Kaufleute aber änderten in Folge von Schalû's Verständniss der im Wolfsgeheul enthaltenen Worte ihren Aufenthaltsort und liessen sich auf einem vierseitigen Berge nieder. Als in der Nacht der Regen in Strömen goss und der Fluss mächtig über die Ufer trat, sagten die Kaufleute zu einander: »Ohne Schalû hätten wir umkommen müssen!« und gaben dem Schalû Schätze in reichlicher Menge zur Belohnung.

aus:
Ardschi-Bordschi (Vikramâditjas Geburt)
enthalten in:
Bernhard Jülg: Mongolische Märchen. Innsbruck, 1868

Sonntag, 4. August 2013

Mongolische Sprache(n)

Von einer mongolischen Sprache kann man nicht sprechen. Es handelt sich um eine Sprachgruppe die in Asien über die Mongolei, China, Russland und sogar Afghanistan verteilt ist und aus etwa 15 Sprachfamilien besteht. Sie gehören mit den tungusischen und türkischen Sprachen zur altaischen Sprachfamilie. Das Mongolische (alle Dialekte zusammen) sprechen 5 bis 6 Millionen Menschen. Der Chalcha-Dialekt, der in der Mongolei gesprochen wird, hat mit 3 Millionen Sprechern die größte Verbreitung. Überliefert sind Frühformen (Altmongolisch) seit dem 12. Jahrhundert. Obwohl das Mongolische über eine eigene Schrifttradition verfügt, wird die Sprache heute mit dem russisch-kyrillischen Alphabet geschrieben. Das wurde 1941 auf sowjetischem Druck hin eingeführt, nachdem zuvor die Wiedereinführung der lateinischen Schrift, mit der man es schon um 1930 einmal für eine kurze Zeit versucht hatte, beschlossen wurde. Seit Mitte der achtziger Jahre wird die klassische Schrift der Mongolei wieder an den Schulen gelehrt und im Alltag für Logos und ähnlichem benutzt.

Galsan Tschinag, ein Schriftsteller aus dem Altai, der in deutscher Sprache schreibt, wurde bei einer Lesung in Bad Mergentheim gefragt, was ihm die deutsche Sprache bringe. Durch sie hätte er Struktur gelernt, antwortete er. In der mongolischen Sprache sei er freier, in ihr würden ihm Gedichte besser gelingen.

Wer sich aus Interesse, oder weil eine Reise in die Mongolei ansteht, mit der Sprache beschäftigen möchte, findet im Mongolisch-Kurs von Paul Metzler und Enkhzaya Eldevdorj eine guten Einstieg, der nichts voraussetzt. Es gibt sogar eine zugehörige Homepage, von der das Audio-Material zu diesem Kurs herunter geladen werden kann.


Wer nicht so sorgfältig einsteigen möchte, aber unterwegs ein wenig Kauderwelsch benutzen will, der findet im Mongolisch-Buch der Kauderwelsch-Reihe einen passenden Begleiter:


Dazu gibt es auch eine CD, die den Inhalt des Buches akustisch hörbar macht:


Über Youtube kann man sich auch eine nette Mongolisch-Lehrerin auf den eigenen PC oder Mac holen.



HDR



Samstag, 3. August 2013

Urna Chahartugchi - die Stimme aus der Mongolei

Urna Chahartugchi, die Hauptdarstellerin im Film »Das Lied von den zwei Pferden« ist auch auf zwei CDs zu hören. Zum Einstieg eignet sich ganz besonders die 2012 produzierte CD Portrait: The Magical Voice from Mogolia


Im ausführlichen, dreisprachigen (engl./dt./frz.) Booklet wird die Geschichte von Urna erzählt und die Liedtexte liegen in Übersetzungen vor.


Die Musikerin stammt aus einer mongolischen Nomadenfamilie, geht in die Stadt, um Musik zu studieren. Da Geld fehlt, übernimmt sie Kinderdienst bei Ihrer Lehrerin. Später folgt sie ihr nach Shanghai, lernt Mandarin und schafft es, an der Musikhochschule aufgenommen zu werden. Dieser Weg ist voller Mühen, wird von ihr aber bewältigt. Seither ist sie nicht nur auf den Konzertbühnen ihrer Heimat zu hören, sondern weltweit. Urna ist Nomadin geblieben, lebte in Kairo und Berlin und singt doch nur über ihre mongolische Heimat, die sie als bedroht ansieht.

Ihre erste CD erschien bereits im Jahr 2002:



Freitag, 2. August 2013

Der Fuchs, der Löwe und das Rind

Abermals folgte der auf gutem und glücklichem Wandel begriffene Chân hinter Siddhi-K ýr her und gelangte in die Nähe des Mango-Baumes. Als er mit seiner Axt, »weisser Mond« benannt, den Fuss des Baumes umzuhauen begann, sprach Siddhi-K ýr: »Fälle meinen Baum nicht«. Nachdem er aber herabgestiegen war, hielt er es in der Art und Weise sich aus dem Staube zu machen wie das erste Mal. Der Chân begab sich daher abermals in den kühlen Todtenhain, um Siddhi-K ýr zu holen. Während er dann mit ihm auf dem Rücken dahin wandelte, erzählte Siddhi-K ýr neuerdings folgende Geschichte.

Wieder einmal früh vor Zeiten hauste in Indiens Nordland auf dem Schneegebirge in einer Löwenhöhle eine Löwin. Nachdem sie eben ein Junges zur Welt gebracht hatte und nirgends etwas zu essen vorfand, war sie schon auf dem Punkte ihr Junges zu verzehren. Doch da sie es nicht über sich bringen konnte dasselbe zu opfern und zu verzehren, so machte sie sich auf, um in der Richtung zwischen einem Berge und der Ebene Nahrung zu suchen. Während nun die Rinder einer Heerde den Geruch der Löwin spürten und sich eiligst davon machten, war eine Kuh nicht geflohen. Die Löwin packte die arme Kuh, schlürfte ihr das Blut aus und schleppte Fleisch und Knochen mit sich fort. Das Kalb folgte ihr. Während die Löwin von dem Schlürfen des Blutes berauscht dalag, saugten ihr Junges und das Kalb zusammen an ihr. Weil sie berauscht war, hielt die Löwin alle beide für ihre Jungen und nährte sie. Nach einiger Zeit wurde die Löwin krank, indem ihr der Knochen eines wilden Thieres im Halse stecken geblieben war. Als sie dem Tode nahe war, gab sie ihren zwei Jungen in ihrem Testamente noch folgende Lehre: »Ihr beide sollt friedlich mit einander leben; wenn ein Feind naht und eure Kraft von ihm durch unrechte und schlechte Mittel zu gewinnen gesucht wird, so dürft ihr seinen Worten kein Gehör schenken«. Darauf starb die Mutter. Der junge Löwe begab sich hierauf in einen Wald, das Kalb aber auf die Sonnenseite eines Berges. Zur Zeit des Wassertrinkens tranken sie gemeinschaftlich und pflegten dann mit Spielen zusammen sich zu unterhalten. Nach einiger Zeit fasste ein Fuchs, der seither dem Löwen gefolgt und vom Fleische der von ihm erlegten Thiere zu leben gewohnt war, einstmals als Löwe und Rind wieder mit einander zur Tränke gegangen waren, während des Trinkens den Entschluss, die beiden zu reizen und zu entzweien, indem er bei sich dachte: »Von des Löwen Beute habe ich bisher allein gezehrt; da nun dieses Rind gekommen ist, so müssen wir künftig mit einander von derselben zehren«. In solchen die Aufreizung beider bezweckenden Worten liess er sich aus. Eines Tages hatte der Löwe ein Thier ergriffen und begann es zu zerfleischen. Während er das Blut schlürfend so dalag, trat der Fuchs, ohne das Fleisch des vom Löwen ergriffenen Thieres anzurühren, zum Löwen hinzu, und da er seinen Schweif einziehend und seine Ohren hängen lassend so dastund, sprach der Löwe: »Fuchs, was ist dir geschehen? letze dich doch an diesem Fleisch hier«. Der Fuchs erwiederte: »Wie könnte ich dieses Fleisch verzehren? du hast einen Feind; darüber grämt sich mir, deinem Oheim, das Herz«. Doch der Löwe versetzte: »Ich dürfte kaum einen Feind haben, verzehre das Fleisch nur ruhig«. Allein der Fuchs sprach: »Wenn du den Worten deines Oheims kein Gehör schenkst, so wirst du es später bereuen«, und legte sich nieder. »Nun, wer ist denn mein Feind?« fragte der Löwe. »Ein Rind dort muss es wohl sein«, sprach der Fuchs; »es sagt immer: ›der Löwe hat meine Mutter getödtet, jetzt will ich dafür den Löwen tödten‹«. »Wir beide sind ja zwei Brüder«, sagte der Löwe; »da ist für mich keine Gefahr«. Der Fuchs versetzte: »Weisst du denn nicht, dass du in Wahrheit die Mutter deines schlimmen Bruders getödtet hast?« Indem der Löwe bei sich dachte: »Die ser Fuchs ist ja doch wahrlich mein Oheim«, begann er weiter: »Wie will denn das Rind mich tödten? sag' es mir doch«, worauf der Fuchs antwortete: »Wenn morgen früh das Rind aufsteht und mit den Hörnern die Erde aufwühlt, sich ausstreckt, den Schwanz hängen lässt und in einem fort brüllt, so ist dies das Zeichen, dass es dich tödten will«. Der Löwe, Argwohn fassend, sprach: »Nun, wenn das der Fall ist, so werde ich auf der Hut sein«.

Darauf begab sich der Fuchs auch auf des Berges Sonnenseite und trat zu dem Rinde, das sich eben gelagert hatte, nachdem es am Grase sich gesättigt. Indem er den Schweif einziehend, die Ohren hängen lassend und weinend vor ihm stand, sagte das Rind: »Fuchs, was ist dir geschehen?« »Mein Mütterchen«, sprach der Fuchs, »weil du einen Feind hast, desshalb gräme ich, dein Oheim, mich so und muss weinen«. Doch das Rind sprach: »Ich habe durchaus keinen Feind, der mir etwas anhaben könnte«, worauf der Fuchs versetzte: »Auf des Berges Rückseite haust ein Löwe; der sagt: ›früher hat meine Mutter seine Mutter zerfleischt, jetzt will ich ihn zerfleischen‹«. »Da sei du nur ganz ruhig«, erwiederte das Rind, »wir beide sind zwei Brüder; er wird gegen mich keine Feindseligkeit beginnen«. Allein der Fuchs sprach: »Wenn du jetzt meinen Worten kein Gehör schenkst, so wirst du es später bereuen«. »Du bist doch wahrlich mein Oheim«, versetzte das Rind; »nun, wenn die Sache so steht, wie will denn der Löwe mich tödten? sag' es mir doch«. Da sprach der Fuchs: »Wenn morgen früh der Löwe aufsteht und sich ausreckt, seine Mähnen emporschüttelt, seine Klauen ausstreckt und mit den Füssen die Erde in einem fort aufwühlt, so ist dies das Zeichen, dass er dich tödten will«. »Wenn das so ist«, sprach das Rind, »so will ich auf der Hut sein«.

Den andern Tag in der Frühe, als sie aufstunden und einander beobachteten, da zeigte sich alles so, wie der Fuchs es gesagt. In Folge dessen erhob sich in beiden der Groll, und als sie um Sonnenaufgang beide zu gleicher Zeit eintreffend Wasser zu trinken gekommen waren, liessen sie, weil jedes von beiden beim Aufstehen seine besondere Art hatte und eines des andern Gewohnheit nicht kannte, von den aufreizenden Worten des Fuchses sich hinreissen. Da machte der Löwe mit voller Wucht einen Satz und packte das Rind am Hals, das Rind dagegen fuhr gleichzeitig mit seinen Hörnern dem Löwen zwischen die Füsse empor. Auf diese Weise giengen alle beide, der Löwe und das Rind, zu Grunde. Bei dieser Gelegenheit liess sich eine geheimnissvolle Stimme vom Himmel vernehmen: »Man darf nie schlechten Freunden trauen; sehet, wie der Fuchs, als der Löwe und das Rind dem schlechten Freunde trauten, sie beide entzweit hat!«

»So hat also der böse Fuchs zwei theure Brüder entzweit!« rief bei diesen Worten der Erzählung der mit Glück und Wohlstand gesegnete Chân, und Siddhi-K ýr versetzte: »Sein Glück verscherzend sind dem Munde des Chânes Worte entschlüpft!« und mit dem Ausruf: »In der Welt bleibe ich nicht!« flog er durch die Lüfte davon.



Bernhard Jülg: Mongolische Märchen
Innsbruck, 1868, S. 35-40

Donnerstag, 1. August 2013

Fabelhafte Filme aus der Mongolei

Die Höhle des gelben Hundes



Die Geschichte könnte auch bei uns passieren: Kind bringt einen herrenlosen Hund mit nach Hause, den es beim Spielen gefunden hat. Vater sagt Nein. Die daraus resultierenden Konflikte taugen für unzählige Geschichten. In diesem Film erzählt die aus der Mongolei stammende Regisseurin Byambasuren Davaa dieses Thema mit einer mongolischen Familie, die noch fernab von der Zivilisation in einer Jurte lebt. Damit die Kinder eine Schulbildung bekommen, müssen Sie in die Stadt, was die Trennung von der Familie bedeutet. Der Film beginnt damit, dass Nansaa, die älteste Tochter in den Ferien nach Hause kommt. Sie findet beim Dung sammeln einen Hund, den sie Zochor nennt. Der Vater, der gerade zwei Schafe durch Wölfe verloren hat, ist strikt dagegen, weil er fürchtet, dass der Hund mit Wölfen zusammen gelebt haben könnte. Er würde dann die Wölfe zu ihnen locken, meint er.

Der Film wird ganz unaufgeregt erzählt. Alle Darsteller sind Laien und spielen sich selbst. Ein Drehbuch gab es nicht, als der Film gemacht wurde. Er ist auch nicht synchronisiert, was aber alles andere als störend ist. Die Texte lassen sich gut mitlesen und der Klang der mongolischen Sprache gibt dem Film noch ein bisschen mehr an Authentizität. Die Handlung läuft ruhig ab, ohne große Aufregung. Lediglich ganz zum Schluss kommt ein wenig Dynamik hinein, als der Vater das jüngste Kind sucht. Viel spannender ist aber zu sehen, wie in der mongolischen Familie miteinander umgegangen wird. Die Ernsthaftigkeit, mit der die Erwachsenen auf die Kinder eingehen, auch der natürliche Humor, der untereinander gepflegt wird, sind bewundernswert.

Byambasuren Davaa wurde 1971 in der Mongolei geboren und studierte dort an der Hochschule für Filmkunst in Ulaanbaatar. Im Jahr 2000 kam sie nach Deutschland, um an der Hochschule für Fernsehen und Film in München zu studieren. Schon der Vordiplomfilm »Die Geschichte vom weinenden Kamel« (2003) wurde ein Erfolg. »Die Höhle des gelben Hundes« wurde dann ihr Diplomfilm (2005).


»Die Geschichte  vom weinenden Kamel« erzählt ebenfalls von einer Nomadenfamilie aus der Wüste Gobi. Ein weißes Kamelbaby wird von der Mutter verstoßen. Erst durch einen Musiker mit der Pferdekopfgeige kann die Kamelmutter dazu bewegt werden, ihr junges doch anzunehmen. Kritiker sprechen von einer »märchenhaften Geschichte« wohl mit Blick auf das Ritual, das der Musiker zelebriert. Dabei übersehen sie aber, dass das Augenmerk der Regisseurin auf ganz anderen Aspekten gerichtet ist.




Beide Filme zeigen die Menschen in der mongolischen Weite und deren Konfrontation mit der Zivilisation. Im zweiten Film kommt dieses Element verhaltener, wirkt dafür aber m.E. viel eindringlicher. Der Vater überlegt, ob er in der Stadt einen Job im Kaufhaus sucht, um während der Schulzeit in der Nähe der Tochter (später auch der anderen Kinder) bleiben zu können. Der Lohn ist zu niedrig, sagt die Mutter. Davon können wir ja nicht leben. Wovon die Familie lebt, zeigt der Film in den alltäglichen Handlungen. Beide Filme wurden ausgezeichnet, etwa mit dem Bayerischen Filmpreis (Kamel, 2003), Förderpreis Deutscher Film (2005, Höhle) und dem Deutschen Filmpreis (2006, bester Kinder- und Jugendfilm für die Höhle). »Die Geschichte vom weinenden Kamel« wurde 2005 sogar in der Sparte Dokumentarfilm für einen Oscar nominiert.

Im Jahr 2009 folgte der Kinofilm »Das Lied von den zwei Pferden«, in dem das Problem des Verlustes kultureller Traditionen weiter geführt wird. Es ist auch ein Film über mongolische Musik.




Mittwoch, 31. Juli 2013

Der Habicht und die Taube

Der Habicht war krank geworden. – „Es ist die Strafe meiner Sünden!“ – sprach er: – „Von nun an sey Friede zwischen mir und allen Vögeln!“ – Kaum hat er es gesagt, so flatterte eine Taube bei ihm vorbei. – “Nur diese noch!“ – sprach er: und erwürgte sie.
Der ewige Friede!

Christian August Fischer

Donnerstag, 25. Juli 2013

Die Nachtigall, der Habicht, der Vogelsteller

Die neunzehnte Fabel

Ein Habicht lauft‘ im Nest der Nachtigall
Auf einen Hasen, und fand Junge drinnen.
Die Mutter kam voll Angst bey der Gefahr der Brut
Herbeygeflogen, und fleht‘ ihrer doch zu schonen.
Dein Wille soll geschehen, sprach der Habicht,
Wenn du mir willst ein schönes Liedchen trillern.
Die Lust verging ihr – doch sie sang, aus Furchte
Gezwungen und betrübnißvoll. Du hast
Nicht gut gesungen, sprach der Habicht, und ergriff
Ein Junges mit den Klauen, und verschlang es.
Indessen kam von hinterher ein Vogelsteller,
Berührt ihn unbemerkt mit seinem Leimrohr
Und zog den Bösewicht herunter auf die Erde.

Wer einen Andern zu berücken trachtet,
Hat sich zu fürchten, auch berückt zu werden.

Phäders Aesopische Fabeln,
deutsch, in Reimfreyen Jamben,
übersetzt Breslau, bey Will. Gottl. Korn, 1785

Mittwoch, 24. Juli 2013

Der welsche Hahn, der Habicht und der Adler


Man diene, wem man kann, doch nicht um reich zu werden.
Dann nichts ist kärglicher, als die Erkenntlichkeit.
Es ging ein welscher Hahn, in stolzer Sicherheit,
Aus seinem Hof ins Feld, und musterte die Herden.
Ein Habicht, welchem nur der Adler schrecklich war,
An Fängen stark, schlau wie ein Hasengeyer,
Schoß auf den Hahn herab, und, durch ein Abenteuer,
Entriß ein Adler ihn der plötzlichen Gefahr.
Damit ich, sprach der Hahn, nicht dankvergessen scheine,
Sing ich dein Lob: ich singe meisterlich.
Auch hab ich ein Geschenk für dich.
Ich gebe gern. Was? Meiner Federn eine.

Es drohte Spanien Alphonsens‘ Thron den Fall,
Doch Englands zweiter Carl beschützte Portugall.
Für den zu schwachen König stritten
Die unerschrockenen freien Britten,
Und siegten, so wie sonst, auch bey Amerial.
Alphonsus lobt den Heldenmut der scharen,
Durch deren Arm sein Reich bestand;
Doch macht er seinen Dank auch durch Geschenke kund.
Die königlichen Gaben wären,
Für jede Compagnie, an Schnupftabak, drye Pfund.

Friedrich von Hagedorn
Versuch in Poetischen Fabeln und Erzählungen
Leipzig bey Bernh. Christ. Breitkopf
ca. 1739
unberechtigter Nachdruck

Sonntag, 21. Juli 2013

Der Vogelsteller, der Habicht und die Lerche

Oft dient uns Unrecht, dem die Bösen huldigen,
Die eignen Übeltaten zu entschuldigen.
Dies aber ist der Welt Gesetz und Brauch:
Willst du geschont sein, schone andre auch.

Ein Landmann fing mit seinen Netzen Vögelein.
Er lockte eine Lerche an. Ein Habicht fuhr
Von Himmelshöhe nieder auf die Flur,
Ein schneller Stoß, die Sängerin war sein;
Noch eh sie in der bösen Falle,
Spürt sie des Habichts scharfe Kralle.
Er will sie rupfen und sich niedersetzen,
Da fängt er selbst sich in den Netzen.
In seiner Sprache flehte er den Landmann an:
»Laß mich, ich hab dir nie etwas zuleid getan!«
Der Vogelsteller drauf: »Was aber tat denn dir
Zuleide dieses kleine Tier?«

Jean de Lafontaine
Berlin 1923

Montag, 15. Juli 2013

Der todkranke Habicht und die leichtgläubigen Tauben

Ein Habicht lag in letzten Zügen,
Und rief, es geht mir herzlich nah,
Daß ich die Tauben zu betrügen,
Im Leben stets nach Mitteln sah;
Drum such ich ihnen abzubitten
Was sie bisher von mir erlitten.

Die Tauben wurden ehr gebeten;
Es kamen ihrer auch ein Paar.
Doch als sie, sicher vor Gefahr,
Dem Kranken allzu nah getreten,
Ihn, zur Versöhnung, selbst zu küssen,
Da hat er sie noch todt gebissen.

***

Lernt klüger sein, ihr albern Tauben,
Und send in Zukunft nicht os blind,
Merkt, daß den Feinden nicht zu glauben,
So lange sie am Leben sind.


Daniel Wilhelm Triller

Samstag, 13. Juli 2013

Die V. Fabel/Von der Nachtigall und Habicht


Welche anderen Feindschaft tragen / und ihnen hässlich nachstellen / die bedörffen daß sie sich selber auch besorgen / daß ihre Bosheit nicht fürkommen würd / als hie geschehen ist.

Ein Habicht saß in einer Nachtigallen Nest / und beschattete das Wetter / und fand allda junge Nachtigallen. Bald käme die Alte / und bat den Habicht / daß er ihr die Jungen wollte lassen. Der Habicht antwortete: Ich will Thun / was du wilt / wann du mir schön singest. Wiewohl nun der Nachtigalle Herzt / vor Sorg und Angst umb ihre Jungen sehr betrübt biß in den Tod / doch zwar sie die Liebe ihrer Jungen / zu singen. Da sprach der Habicht: Du hast nicht wol gesungen / un nam eines von den jungen / un hub an zu essen. In dem kam ein Vogler zwerchs Weges gegangen / und lockte mit dem Pfeifflein / und reizte mit der Wicken / und stecket die Klebrüthlein / derer eines nahm der Habicht / und verwickelte sich darein / daß er damit zu der Erden fiele / und wiewohl er die andern hatte beschädigt / so war er doch nicht so behänd / und wurde also selber gefangen.

Dann welcher hütet / und meinet er hab wol gehütet / wird offt selbst gefangen.


aus:
Asopus:
Das ist
Das ganze Leben und Fabeln Esopi:
Samt einem Anhang der Fabeln
Aniani/Adelfonsi/un etlicher Schimpff-Reden Pogij:
Auch Auszügen schöner Fabeln und Exempeln
D. Sebastian Brands.
Alles mit schönen Figuren zu dbesserer Einbildung in Druck gegeben
Zu Basel/Anno 1676

Dienstag, 9. Juli 2013

Die Freundschafft der Kazen und Ratten

Die Kazen und Ratten lebten sonst in großer Feindschafft, und von beyden Seiten sezte es manchen gefährlichen Tanz. Murner der Alte that endlich Vergleichs-Vorschäge: die Ratten sollten den Kazen den Mäusefang frey lassen, und diese sollten jene nicht auf den Malzböden stören. Sie wurden billig befunden, und durch die Speckmäuse als erbetene Garants feyerlich puliciret. Sultan hörte an einem Riz den Tractaten mit zu: Ist es doch, sprach er und leckte seinen Schnurbart, als wann ich meinen gnädigen Herrn, Zevs tröste ihn! den Cammer-Rath mit seinen Amtleuten wieder reden hörte.

Friedrich Karl von Moser

Freitag, 5. Juli 2013

Der Sperling und die Nachtigall


Ein Sperling sprach zu einer Nachtigall:
Der Storch ist doch ein großer Reiser!
Er reist in alle Welt, ist, sagt er, überall
Umher gewesen; ob er weiser
Geworden ist? Ich zweifle dran.

Die Nachtigall hört alle an,
Sagt nichts; allein, man las in ihrem Blick,
Daß sie nicht eben viel vom Afterreden halte –
Sie flog in ihren Wald zurück,
Und sang, daß Berg und Thal erschallte!

Johann Wilhelm Ludwig Gleim
Ausgewählte Werke, Leipzig 1885

Dienstag, 2. Juli 2013

Die sechs Falken oder der gebrochene Flügel


Sechs junge Falken, von denen nur Midschidschiquona, der älteste, etwas fliegen konnte, hatte der plötzliche Tod ihrer Eltern unversorgt und nahrungslos gelassen. Lange hatten sie auf deren Rückkehr vergeblich gehofft, und die jüngeren hatten sich schon mit dem Gedanken des Hungertodes vertraut gemacht, als sich Midschidschiquona entschloß, die anderen, so gut er eben vermochte, mit Futter zu versehen. Eine Zeitlang ging dies auch recht nett, bis endlich auch er ausblieb.

Nun fühlten sich die anderen erst recht unglücklich, denn der Winter war vor der Tür, und ihre Flügel waren noch zu schwach, um sie in eine wärmere Gegend zu tragen. Doch faßten einige Mut und flogen aus, ihren verunglückten Bruder zu suchen.


Bald fanden sie ihn auch; er hatte sich im Kampf mit einem anderen Raubvogel den rechten Flügel gebrochen. »Brüder«, stöhnte er, »mir ist's schlecht ergangen; aber kümmert euch nicht weiter um mich, und laßt euch nicht durch mich abhalten, der rauhen Zeit zu entfliehen.«


»Nein, nein!« schrien sie alle. »Wir verlassen dich nicht, sondern bleiben hier, um deine Leiden zu teilen und für dich zu sorgen, wie du ehemals für uns sorgtest. Wenn dich der Winter tötet, mag er uns auch töten; doch solange du lebst, bleiben wir bei dir.«
Darauf trugen sie den Kranken in einen hohlen Baum, und drei blieben ständig zu seiner Pflege und Wartung um ihn herum, während die anderen zwei ausflogen und Futter suchten.


Midschidschiquona genas bald und gab seinen Brüdern allerlei erprobte Lehren hinsichtlich der Jagd, was diese befähigte, den ganzen Winter hindurch den Hunger fernzuhalten.
Der Frühling erschien, und die Jagd wurde ergiebiger; doch Pipidschiwisäns, der jüngste Falke, der gerade nicht der klügste und stärkste war, brachte nie etwas nach Hause, trotzdem er täglich am längsten weg war. Da fragte ihn einst Midschidschiquona nach der Ursache seines ständigen Unglücks.


»Es ist weder meine Schwachheit noch meine kleine Gestalt daran schuld«, erwiderte er, »denn ich töte stets so viele Enten und sonstige Vögel wie ein anderer; aber wenn ich mit ihnen heimfliegen will, so stürzt jedesmal eine mächtige Kokokoho (Eule) auf mich los und nimmt mir meine Beute wieder ab.«


Midschidschiquona flog daher am anderen Tag mit ihm und verbarg sich in der Nähe des Ufers. Pipidschiwisäns fing bald eine Ente, und gleich darauf erschien auch die große Eule, um sie ihm wieder abzunehmen. Schnell stürzte nun Midschidschiquona aus seinem Dickicht, packte sie mit seinen scharfen Krallen und trug sie nach Hause.


Der Kleine flog nebenher und versuchte ihr die Augen auszuhacken.


»Tu das nicht, Bruder«, sagte Midschidschiquona, »denn es ist Unrecht, einen hilflosen Feind zu verstümmeln und ihn zu lehren, gegen Schwächere grausam zu sein.«
Darauf ließ er die Eule wieder fliegen.


Die sechs Falken lebten noch lange Jahre beisammen, und die alten Mediziner, die diese Fabel erzählt haben, wollen ihren roten Landsleuten damit beweisen, daß Einigkeit und Bruderliebe jede Not des Lebens besiegen.

Knortz, Karl
 Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas

Sonntag, 30. Juni 2013

Die Blume im Pfade


Eine Blume stand im Gange,
Die der Zufall dort gepflanzt.
Doch der Gärtner sprach: wie lange
Bleibt hier wol dein Glück verschanzt:
Du wirst bald den Hindernüßen
Weichen, und verderben müßen.

Nein, sprach sie, man läßt mich leben,
Wenn du nur mein Gönner bist.
Und ich will mich schön erheben,
Daß kein Feind mir schädlich ist.
Drum so laß dich auch erweichen,
Und mri meinen Glanz erreichen.

Kind, versetzt der, dich zu retten
Widersprcht des Pfades raum.
Du wirst ohne dem zertretten,
Denn die meisten sehn dich kaum.
Du mußt fort. Mit einem Worte,
Du stehst nicht am rechten Orte.

Mancher Einfall klänge schöne,
Wär er nur recht angebracht.
Dieß bedenkt, ihr Musensöhne,
Wenn ihr schreibt, und Lieder macht.

Pflanzt euch Blumen, schwingt die Worte.
Aber thuts am rechten Orte.



Daniel Wilhelm Triller

Mittwoch, 26. Juni 2013

Ulrike Renk

Ulrike Renk ist eine fabelhafte Autorin. Ganz gleich ob sie historische Romane, Kriminalromane schreibt oder kooperativ mit anderen Autorinnen - es kommt immer etwas empfehlenswertes dabei heraus.


Montag, 24. Juni 2013

Die streitenden Kater

Zwei Kater lebten Tag und Nacht
In stetem Krieg und Streite;
Und war ein schwerer Kampf vollbracht;
Was war des Sieges Beute?
Mit blut'gen Köpfen schlichen sie,
Ermüdet sich von dannen
Und ruhten bis in aller Früh,
Sie neu den Zank begannen.

Der Haushund sah verdrießlich zu,
Ihn ärgerte ihr Lermen.
»So haltet denn doch einmal Ruh!
Was hilfts euch aufzuwärmen,
Tagtäglich euren alten Brei.
Erzählet mir die Sache;
Vielleicht schaff ich noch Rath herbei,
Daß ich's zu Ende mache.«

Die Kater sannen Kreuz und Queer,
Warum sie so sich rauften;

Und sich einander hin und her,
Mit bösen Namen tauften.
Nachdenkend schlich das Pärchen fort,
Doch schon nach wenig Stunden,
Ward kämpfend an demselben Ort,
Vom Haushund es gefunden.

Karoline Stahl
Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder
Nürnberg 1821

Donnerstag, 20. Juni 2013

Von der Maus im Käse


Die Katze fand eine Maus, die sich in einen fetten Käse so tief eingegraben hatte, daß man nichts mehr als nur den Kopf von ihr sehen konnte. Die Katze fragte, was sie hier zu bestellen hätte? Worauf die Maus versetzte: ich habe mich der Welt entschlagen. Die Katze sagte darauf: Ich preise diese deine Philosophie. Ich will deinem Beyspiele nachfolgen, und auf eben diese Art mich auch der Welt entschlagen. Hierauf fraß sie so wohl die Maus als den Käse auf.

Diese Fabel lehret, daß viele, die den Umgang mit andern Leuten scheuen, und unter dem Vorwande, sie hätten sich der Welt entschlagen, sich insgeheim in Wollust und Unmäßigkeit herumwälzen.



Moralische Fabeln
mit beygefügten Erklärungen einer jeden Fabel
Aus dem Dänischen des Herrn Barons von Holberg
übersetzt durch J.A.S.K.D.E.
Leipzig 1752

Sonntag, 16. Juni 2013

Der Fuchs und der Biber

 
Reinike, der einem Biber begegnete, lobte nach Hofmanier dessen sanftwolligen Pelz. Nur Schade! sprach er, daß ein so zartes Thier einen so rauhschuppigen Schwanz führt. Sieh, wie sanft und baumelnd der meinige nachwallt!

Aber hast du mit dem deinigen auch ein Haus gebaut? fragte der Kastor.

Das atlasne Patschchen! Aber wie steht es mit der Arbeit?


Johann Friedrich Ferdinand Schlez

Mittwoch, 12. Juni 2013

Die Eule und der Rabe


Die Eule
Daß Jedermann mich als Minvervens Vogel ehre!

Der Rabe
Und mich, weil ich dem Phöbus angehöre.

Die Eule
Mich wundert es doch ungemein,
Daß Phöbus einen Dieb zu seinem Liebling wählet.

Der Rabe.
Und meinst du beß'rer Art zu seyn?
weiß nicht die ganze Welt, daß auch ihr Eulen stehlet?

Die Eule
Ey nun! Freund Rabe, laß uns nur Gesten,
Daß nicht Verdienste stets zu Lieblingen erhöhn.


Johann Friedrich August Kazner

geb. 1732 in Stuttgart
gest. 1798 in Frankfurt a.M.
als Gräfl. Degenfeldischer Hofrath

Fabeln, Epigrammen Und Erzählungen (1786)

Samstag, 8. Juni 2013

Fabelhafte Hörbücher

Kostenlos können von einigen 42er Autoren Hörbücher heruntergeladen werden, und zwar:

von Monika Detering: Der Sandmann

von Cordula Hamann: Strandspaziergang

von Michael Höfler: Lady Straßenbahn

von Tom Liehr: Sieben Monate

von Cornelia Lotter/Horst-Dieter Radke: Feuer und Eis

von Susanne Oswald: Der große Tag

von Silke Porath: Fred

von Horst-Dieter Radke: Falsch

von Ulrike Renk: Sumach

von Andreas Simon: Urlaub mit Monique

Donnerstag, 6. Juni 2013

An ama Haus sieht ma an geala Basilischka …

An ama Haus henter'm Engel z'Memmenga sieht mã an geala Basilischka mit era fuirothe Zonga. – Dau haut mã amaul d'Magd in Keller na g'schickt und haut g'wahtet und g'wahtet, aber s'ischt koĩ Magd meh rauf komma. Do haut mã eppen andersch na g'schickt, aber s'ischt wieder nemad rauf komma, denn sobald's der Basilischk angucket haut send se g'schtorba. Am End gaut oiner her, nemmt an Schpiegel und laut da Basilischka neĩ gucka, und sobald se der sell drenn g'sẽ a haut, ischt er uf der Schtell verreckt. –

Wenn a Gockeler reacht alt wird, so legt er an Oi, bruatets aus, und us dem wird denn a Basilischk.


Alexander Schöppner
Sagenbuch der Bayer
München 1852/53



Montag, 3. Juni 2013

Die Melusine und der Abt


Wenn ich früher auf dem Weg nach Wertheim oder zurück von Wertheim Richtung Tauberbischofsheim an der Stelle vorbei kam, an der es ab zur Eulschirbenmühle ging, gab es nichts auffälliges zu bemerken. Neuerdings stehen dort am Straßenrand aber immer ein oder zwei Autos oder Radfahrer sind auf dem Weg zu sehen, der zu dem alten, Schloß ähnlichen Gemäuer führt. Ob ich das auf die Veröffentlichung in meinem Buch »Alles fließt in Tauberfranken« zurückführen darf?




Nicht nur  das Gebäude, das leider zu verfallen scheint, ist romantisch, sondern auch die Sage, die damit verknüpft ist:


Der Graf, der auf der Gamburg lebte und seine Tage mit Fischen und Jagen verbrachte, sah ein Mädchen von großer Schönheit an der Mühle vorübergehen. Er erfuhr, dass die Fremde seit kurzem in der Mühle verdingt sei. Als er einmal sah, dass sie sich ihrer Kleider entledigte und in das Wasser der Tauber sprang, wo sie dann als Wasserfrau mit Fischschwanz eine Weile ihr Vergnügen fand, stahl er ihr die Kleider und machte sie so zu seiner Geliebten. Der neidische Müller verband sich mit dem Abt von Bronnbach. Beide machten dem Treiben ein Ende. Die Wasserfrau verschwand für immer und der Graf starb bald aus Gram.

aus: Horst-Dieter Radke
Alles fließt in Tauberfranken
Gmeiner Verlag, 2013

Freitag, 31. Mai 2013

Der Hirsch und die Fliege

Jüngst lagerte sich eine Fliege
Auf eines Hirsch’s Geweih.
»Wenn ich zu lästig auf dir liege,« -
Sprach sie »so rede frei.«
»Ey, sieh doch!« rief der Hirsch, - »mein Liebchen,
Bist du auch in der Welt?«
so ist’s mit manchem Bübchen,
Das sich für wichtig hält.


Wilhelm Corrodi
Fabeln und Bilder
Zürich 1876

Donnerstag, 30. Mai 2013

Der Fuchs und die Vogeljungen auf dem Baum


In Benfeys Pantschatantra … wird eine Fabel angeführt, die man im Mittelalter in lateinischer, arabischer, hebräischer, spanischer und deutscher Sprache las. Sie steht in dem bei Johann Capua hinzugefügten letzten (17.) Kapitel und hat folgenden Inhalt:

Der Fuchs weiß eine Taube, die auf einem Baume sitzt, so in Schrecken zu setzen, daß sie ihm, um ihr Leben zu retten, ihre Jungen herabwirft. Als der Fuchs weg ist, kommt der Spatz zu ihr und sagt: sie hätte antworten sollen, er solle sein möglichstes tun, und wenn er auf den Baum klettere, so würde sie mit ihnen auf einen andern Baum fliegen. Als der Fuchs wiederkommt, gibt sie ihm diese Antwort. Der Fuchs erwidert: Ich will deine Jungen schonen, wenn du mir sagst, wer dir dies geraten. Sie sagt: Der Sperling. Darauf geht der Fuchs zu diesem und fragt ihn: Wenn der Wind dich trifft, wohin legst du dann deinen Kopf? Der Spatz antwortet: Unter die linke Seite. Darauf fragt der Fuchs: Wenn er dich vorn trifft, wohin dann? Der Sperling: An mein Hinterteil. Der Fuchs: Wenn er dich aber von allen Seiten trifft, wohin dann: Unter meine Flügel. Darauf fragt der Fuchs: Wieso er das könne? Er könne es nicht glauben; wenn er es aber könne, so habe er seinesgleichen noch nicht gesehen. Der Sperling mach te es ihm nun vor. Da packte ihn der Fuchs und sagt: »Du konntest der Taube raten, aber nicht dir selbst!« und frißt ihn auf.

Diese Fabel ist literarisch interessant, da sie Hans Sachs in einem Meisterlied (Götze Bd. 5, Nr. 630) bearbeitete und eine Parallele dazu im Reineke Fuchs steht, wo der Fuchs den Hahn beredet mit geschlossenen Augen zu singen und ihn so fangt; doch wird er hier später befreit.

Interessant ist auch die Volksüberlieferung, die eine Anzahl nahe verwandter Sagen kennt.

Dähnhardt: Natursagen

Mittwoch, 29. Mai 2013

Monika Detering: Nebengleis

»Sie hockten wie Krähen in ihrem Kopf und gaben keinen Laut von sich. Gedanken hatten alle Worte gefressen und waren satt.«

So beginnt »Absturz in Himalaya«, ein Text aus dem Buch Nebengleis, das Kurzprosa von Monika Detering enthält. Es gehört zu den Büchern, die ich öfter aus dem Regal nehme und darin lese. Manche Texte immer wieder. Sämtliche Kurzprosa in diesem Buch, Texte von einer bis sechs Seiten, sind kleine Textgemälde, die man sich immer wieder anschauen, anlesen, durchlesen kann. Man könnte auch ganz trocken sagen, dass dieses Buch einen Mehrwert hat, weil man es öfters liest.


Montag, 27. Mai 2013

Der alte Hahn


Ein Hahn spielte sich ständig vor seinen Hühnern auf, wie schön er doch sei, was für einen prächtigen Kamm er hätte und wie viele er nacheinander auf der Stange beglücken könne. Die Hühner mochten das schon lange nicht mehr hören. Als die Bäuerin auf den Hühnerhof kam und suchend um sich sah, wussten die Hennen sofort, worum es ging: Sie suchte eine von ihnen für die Suppe. Geistesgegenwärtig liefen alle auf den jungen Hahn zu, der abseits in der Ecke stand, weil er vom alten Hahn immer weg gehackt wurde. »So ist das«, sagte sich die Bäuerin, »der alte Gockel schafft es nicht mehr. Ja, ja, das kenne ich. Na, für die Suppe wird er noch taugen.« Sie griff sich den Hahn, drehte ihm den Hals um und verschwand. »Das hat er jetzt davon«, sagte die weiseste der Hennen. »Erst schwillt ihm der Kamm und dann ist er nur noch für die Suppe gut.«

Horst-Dieter Radke

Donnerstag, 23. Mai 2013

Das Rhinozeros und die Gazelle

Das furchtbare Rhinozeros erlaubte manchmal einer lustigen Gazelle allerley Scherz und Schöckerey. Nur selten, wenn sie etwa zu grob neckte, fieng es an zu murren; aber - doch murrte der Behemot.

Die Gazelle faßte daraus kein Arges, und fuhrt täglich in ihrem Muthwillen fort. Da sprach das klügere Känguru: »Mich soll doch Wunder nehmen, ob unvorsichtiger Spaß nicht sehr ernstlich enden wird?«


Der Erfolg bestättigte diesen Argwohn: denn wenige Tage darauf fand man die Gazelle durchbohrt.


Karl Friedrich Kretschmann
aus: Fabeln, Allegorien und neueste Gedichte
8. Auflage, Leipzig, 1799

Donnerstag, 16. Mai 2013

Der Esel, der Affe und der Maulwurf

Ein betrübter Esel heulte,
Weil des Schicksals karge Hand
Ihm nicht Hörner zugewandt,
Die sie doch dem Stier ertheilte;
Und der Affe fiel ihm bey,
Daß der Himmel grausam sey,
Weil er ihm den Schwanz versagte.
Als nun jeder mürrisch klagte,
Sprach der Maulwurf: Ich bin blind;
Daß man sich mit mir vergleiche,
Wenn des Schicksals Zorn und Streiche
Andern unerträglich sind!


Hagedorn
Versuch in poetischen Fabeln und Erzehlungen

Mittwoch, 15. Mai 2013

Die Gänse und der Hahn



Die Gänse:
Wir haben einst zu unsrer ew’gen Ehre
Durch unsre Wachsamkeit
Roms Kapitol vom Untergang’ befreit.

Der Hahn:
Ei! was ich hör!
Habt ihr denn auch die Stadt beschützet?

Die Gänse:
Nein.

Der Hahn:
Nicht? – Nun so haltet ja mit eurem Prahlen ein.



Dialogische Fabeln
Johann Gottlieb Willamov
(1736 − 1777)
Berlin, 1791

Dienstag, 14. Mai 2013

Aar und Fuchs

»Ich dächt', Herr Fuchs, wir wären Beide,«
Sprach König Aar, »gemacht zur Nachbarschaft.
Er hat viel List, und ich viel Kraft!
Sieht Er, ich wohne
Da in der Krone,
Und Er hienieden
Im Loch in Frieden,
Und geht Er aus,
Vertrau Er mir nur
Auf meine Königstreu (und schwöret Königsschwur)
Sein kleines Haus!«

Glück zu, Herr Fuchs, zu hoher Nachbarschaft!
Er hat viel List, und Der viel Kraft.
Vertrau' er nur
Dem Schwur!
Der Fuchs ist nicht zu Haus;
Der König Aar hat keinen Schmaus.
»Wir sind von Gottes Gnaden
Zu Gast geladen
In Nachbar Fuchses Haus
Auf junge Füchselein
Und speisen ihm in Gnaden
Das Nest rein.«

Der Vater kommt. »Ach nein!
Das kann nicht sein!
Sein hoher Schwur! – Und doch,
Da frißt er noch!
Da liegt noch ihr Gebein!
O Jupiter! soll's ungerochen sein?«
Verwaister, harre noch!
Und nun erwach und sieh!
Da fährt er früh
Schon zum Altar
Des Donnergottes selbst, raubt Flammen
Und Fraß zusammen
Und bläht sich: »König Aar!«
Da weht
Ein Sturmwind hinter ihm. Sieh, Aar,
Dein Nest in Flammen!
Sieh Deine Brut
Versenkt, herabgeweht!
Es fäht
Sie Fuchses Rachen auf und kühlet seine Gluth
In junger Adler Blut.

Die Fabel, grausam, falsch und schlecht
Und sonder Zweifel übertrieben,
Ich fand sie alter Hand im neuen Buch geschrieben,
Das hieß das Land- und Kirchenrecht!
Das Buch war schön gedruckt,
Geschrieben war sie schlecht.


Johann Gottfried Herder

Sonntag, 12. Mai 2013

Der Räuber und der Wolf

Ein Wolf, ein grauses Scheusal der Natur,
Das Schrecken aller Schäfer auf der Flur,
Hielt, hingestreckt auf grüne Matte,
Ein Lamm, das er zerissen hatte,
Und, ungerührt von herben Klagen
Der Mutter, er davongetragen,
In seiner Klau und fraß. Ein Räuber sah
Das blutge Paar. Raubgierig schrie er, ha!
Schmeckts, guter Freund? – Mit seinem Schwerte
Bohrt er den Wolfen hin zur Erde.

Da stöhnt der matt: Du bist so bös wie ich,
Und doch, du Brudermörder, tötest mich!
Der nimmt das Lamm. Mein Bruder, höre,
Spricht er, zu spät nun diese Lehre.
Kein arger Böswicht ist des andern Freund,
Und selbst, Freund, merke dirs, sein ärgster Feind.

Den 16ten November 1805
Franz Grillparzer

Donnerstag, 25. April 2013

Schnecke und Wühlmaus


Eine Schnecke traf die emsigen Wühlmäuse als sie ihre Gänge gruben und fragte verwundert: „Ihr macht euch jedes Mal aufs Neue so viel Arbeit, aber meistens halten die Gänge ja nicht lange! Warum macht ihr das?“
„So viel Arbeit?“  antwortete eine Maus und die umherstehenden lachten lauthals.
„Das ist doch keine Arbeit,“ sagte die erste. „Das macht uns Spaß. Wir bauen Gänge, ab und zu schauen wir nach draußen und schieben die Erde etwas raus, knabbern an leckere Wurzeln und wenn wir eine Pause machen, liegen wir in unseren Nestern. Wenn ein Gang hier und da zusammenbricht, dann machen wir gerne wieder einen Neuen.“
„Das macht Spaß?“ Die Schnecke zog ihre Fühler verärgert etwas zurück, „sinnloses Tun ist das!“
„Wenn wir sehen, wie schwer du an deinem Häuschen trägst, das wäre nichts für uns. Das ist doch lästig, immer das Haus auf dem Buckel zu haben. Ohne Haus auf deinem Buckel könntest du auch wie wir, schneller deiner Wege gehen!“
Die Schnecke zog sich beleidigt in sein Haus zurück und dachte so bei sich: „Ein eigenes Haus zu haben ist doch immer schön. Manchmal aber ist es schon hinderlich, da haben die Mäuse recht.“
Spaß haben ist die eine Seite der Medaille, die andere: Alles kann auch hinderlich sein.


Dienstag, 23. April 2013

Das Freundschaftstreffen


Schon lange herrschte tiefe Feindschaft zwischen den Völkern der Hunde und der Katzen. So lange schon, dass man auf beiden Seiten gar nicht mehr wusste, wodurch dieser Streit denn entstanden sei. Und so wurde eines Tages beschlossen, von beiden Seiten je einen Delegierten zu entsenden, damit diese auf neutralem Boden verhandeln konnten und damit endlich Frieden einkehre.

Auf Seiten der Hunde wurde ein prächtiger Bernhardiner auserwählt, der für seine Freundlichkeit und Geduld weithin bekannt war, während die Katzen einen weisen, schwarz und braun gefleckten Kater entsendeten. Die beiden Unterhändler trafen sich auf einer schattigen Waldlichtung, und um seine friedvollen Absichten auszudrücken, hob der Bernhardiner die rechte Vorderpfote und blickte sein Gegenüber treusorgend an. Der Kater jedoch glaubte, der Hund wolle zum Angriff seine Krallen zeigen und sprang entsetzt zurück. Dann aber erinnerte er sich der Wichtigkeit seiner Aufgabe und ließ, um den Gegner vielleicht doch zu besänftigen, ein schmeichelndes Schnurren ertönen, was der Bernhardiner nun seinerseits als bösartiges Knurren empfand.

Tief enttäuscht über soviel Tücke und Gemeinheit trennten sich die beiden Delegierten, die Katze fauchend und der Hund mit gefletschten Zähnen. Wieder zu Hause berichteten beide, dass mit der Gegenseite, trotz besten Willens, keine Verhandlungen möglich seien, und beide Völker wussten nun wieder, warum sie einander hassten.


Montag, 22. April 2013

Die Tagediebin



Sie hat vergessen, warum sie in diese Stadt mit dem nach Schweiß und gasigem Atem, nach faulenden Hölzern stinkenden Fluß und den engen Straßen gezogen war.

Sofia wohnt in einer Pension. Außer ihr gibt es keinen anderen Gast. Ihr Raum ist der kleinste im Haus. Er grenzt an Kammern, in denen gestapelter Hausrat nach Vergangenem riecht. Eine Lattentür führt zum Dachboden mit abgelegten Gedanken von Menschen, die niemand mehr kennt.
Manchmal öffnet sie in der Morgendämmerung die Fenster, holt sich den jungen Tag, saugt seine Stimmung mit Augen, Nase und Mund ein. Er faltet sich auseinander, bringt Erdgeruch und den fliegenden Duft von Blättern und Blüten mit. Immer mehr Tag springt herein, flattert in Spinnennetzen, weht den Staub durcheinander und lacht Sofia an.

Nach Waldmeister riechendes Gras erinnert sie an eine verlorene Zeit. Der scheinbar unbenutzte Tag macht sie glücklich. Dabei vergißt sie, dass er weiterzieht, nicht bleibt. Um ihn zu halten, riecht sie am Bett, am Tisch, am Schrank, an den Wänden. An ihnen haftet Harz und schwebende Öle aus den Nadelwäldern. Mit den Fingerspitzen zerreibt sie gefundenen Duft, mischt ihn mit Rosmarin und Vergißmeinnicht, die eingetopft auf der Fensterbank stehen. Kaffeearoma zieht unter das Dach, in das Zimmer, ihm kriecht malziges von frisch gebackenem Brot hinterher. Fettiger Dunst hängt sich dran, von Speck oder Schinken. Dahinter die Angst eines verwursteten Schweines, ertränkt in Glutamat und Nitrit. Das Gleichgewicht der Stunde ist durcheinander und der Tag riecht nur noch banal.

Da atmet Sofia Zorn, die Reinheit ihres Tages ist zerstört. Was jetzt noch hereinzieht, ist nur zum Atmen gut. Sie reißt die Zimmertüre auf, nimmt einen hingestellten Teller mit Brot und schleudert ihn die Treppe hinunter.
Kreischend werden Nackenmuskeln hart. Ihre Augen brennen, und  Nerven schneiden ins Gehirn, Sofia rennt vor den Modergerüchen aus der Küche fort.
Im Freien krallt sie die Luft, packt sie mit den Fäusten, stopft sie in den Mund. Aber sie ist schon zersetzt von Menschengestank. Und doch ist es besser als im Zimmer, im Haus, sie rennt den Weg zum Fluß, legte sich ans Ufer, kriecht wie ein Hund zum Wasser, und taucht den Kopf hinein. Auf dem Boden des Uferweges kann sie das beruhigende Erdatmen nicht wahrnehmen. Augen, Nase und Ohren sind zugeschwollen.
Nach vielen Stunden wacht sie auf, riecht Holzkohlenqualm. Mit Bratwurstsucht läuft sie zu einer Bude, nimmt weder Geruch noch Geschmack wahr, rennt mit wehenden Haaren durch viele Straßen.

Als Sofia wieder riecht und hört, schnuppert sie an den Händen, die nach verbranntem Fett schmecken.
***

Grünflirrende Sonne verführt Sofia, sich endlich ihren eigenen Tag zu fangen, zu stehlen und seinen Duft aufzubewahren.
Sie erinnert sich an Feuer, an den Glanz besonderer Tage, beginnt ihr Zimmer von Überflüssigem zu befreien, rollt den fremden Teppich mit eingetretenen Gerüchen nach stumpfen Staub und Menschen zusammen. Schleppt ihn zum Speicher, öffnet eine Truhe, findet einen Anzug. Abgestorbene Hautschuppen rieseln auf Gesicht, Hals und Hände.

Sie wollte nur eins, sie wollte ihren Tag, wartete ungeduldig, beobachtete Abends und Morgens den Himmel, roch an der Luft. Viele Tage ließ sie vorbeigehen, denn keiner von ihnen war ihrer.
Nach einer Nacht mit zunehmendem Mond strömte neu geborener Morgenduft in ihr Zimmer. Er legte sich auf ihre Nase und ihren Mund und sie malte ihn mit den Fingern nach. Sofia schmückte Arme und Hals mit Silber, zog Kleider in den Farben des Regenbogens übereinander. Alle Fenster riß sie auf, verschloß die Tür. Ihr Tag zog strahlend mit rotorangenem Frühlicht herein, wirbelte umher, breitete vor Sofia den Duft von Zimt und Mandeln, von bitterwürzigen Blättern der Linden und Birken, von sterbenden Blüten aus. Geruch nasser Gräser hing im Raum, vermischte sich und alles destillierte sich in herber Klarheit. Sie empfing ihn mit geöffneten Armen, roch, schmeckte, er schien vollkommen.
Aber - ein Hauch fehlte.
Sie schrie ihn an, „mach, gleich wachen die Menschen auf und alles ist umsonst!“
Und da kam er wirklich, leise, schwebend, Hauch des fernen Meeres, den günstige Winde getragen hatten. Glücklich zog sie sich aus, damit auch ihre Haut zu einem einzigen Duft wurde. Ihr Tag schenkte ihr seine Zeit, seine Düfte, deckte gegen Abend Sofia mit Spuren gewelkten Flieders, mit hereingewehten Linden- und Birkenblättern zu.
Als seine Stimmung leiser wurde, Zimt- und Mandeldüfte verblaßten, der Hauch nach Meer weiterzog, tanzte er in die Sichel des Mondes und ließ die Nacht herein.


 

Sonntag, 21. April 2013

Krieger, Barde und Taugenichts (3)



Gramgebeugt war der Baron, als er dies vernahm. Hatte er doch nun alle seine Söhne verloren. Und voller Entsetzen war der König, denn es waren nun nur noch drei Monate Zeit von der Jahresfrist verblieben.
Da trat aus dem Dunkel einer Ecke des Thronsaals ein Pferdeknecht hervor und kniete vor dem König nieder. Jung war er und hübsch, und seine Hände zitterten, als er sprach: »So erlaubt, edle Herren, daß ich losziehe, meine Brüder und die Prinzessin zu retten.« Solcherart waren seine Worte.
Da erst erkannte der Baron seinen jüngsten Sohn, der all die Zeit am Hofe des Königs als Knecht gedient hatte. Und Tränen standen in seinen Augen, als er ihn umarmte. Um keinen Preis wollte er ihn ziehen lassen, nun, da er ihn wieder gefunden hatte.
Der Jüngling jedoch senkte bescheiden den Kopf. »Eure Liebe war alles, was mir fehlte, mein Vater. Und gar sehr freue ich mich, daß Ihr mich wieder in Eurem Herzen aufnehmt. Doch nun laßt mich ziehen, denn es sind meine Brüder, und es ist meine Pflicht gegenüber dem König.«
Und da mußte der Vater ihn wohl oder übel ziehen lassen.
Mit Pferd, Schwert und Harfe zog der Jüngling los, und knapp vor Ablauf der Jahresfrist erreichte er das kleine Dorf am Waldesrand. Gar artig fragte er nach dem Weg, und so wies man ihn zu der alten Vettel im Wald und warnte ihn auch eilends vor ihr. Hielt man sie doch für eine Hexe.
»Zwei Weiden und eine Erle, die standen am Sumpf. Die Erle wurde größer, die Weiden verfaulten am Stumpf«, hörte er schon von weitem ihren Gesang, als er in den Wald hineinritt und hielt schnurstracks auf die alte Frau zu. Als er jedoch sah, wie schwer sie an ihren Eimern zu schleppen hatte, sprang er vom Pferd und eilte zu ihr, um ihr die Last abzunehmen. Und gar mitleidig bot er ihr den Rücken seines Pferdes an, damit sie nicht laufen müsse.
So geleitete er sie zu ihrer Hütte und brachte ihr das Wasser in die Küche. Es dunkelte schon, und die Hexe lud ihn ein zu bleiben. Schon bald saßen sie am Feuer und erzählten miteinander, und der Jüngling fragte das alte Mütterchen, warum sie jeden Tag einen solch beschwerlichen Weg auf sich nehme, um Wasser zu holen.
Da klagte ihm die Alte gar bitterlich ihr Leid, von der Quelle, die ihren Lauf geändert, so daß das Bächlein, das aus ihr entspringt, nun Stunden von ihrem Haus entfernt verliefe. Wiewohl doch nur einer in die Höhle am Berg klettern müsse, um den Stein dort zu entfernen, damit das Bächlein wieder seinen alten Lauf nehme, direkt an ihrem Hause vorbei.
Mitfühlend lauschte der Jüngling ihren Worten und schließlich konnte er nicht anders, als ihr helfen, obschon die Zeit bis zur Jahresfrist recht knapp bemessen war. So ritt er zum Berg und kletterte in die Höhle hinein auf der Suche nach dem Stein. Und als er diesen löste, blendete ein Licht seine Augen und Wasser sprudelte hervor und lief über seine Füße.
Als er schließlich die Augen wieder öffnete, stand eine durchscheinende Gestalt vor ihm, die mit der Stimme der alten Frau zu ihm sprach: »Habt Dank, daß Ihr den Fluch von mir genommen habt. Grausam war ich den Menschen gegenüber, so mußte ich jemanden finden, der aus Mitgefühl mir zu helfen bereit war und meinen wahren Geist aus der Quelle entließ. Drei Wünsche seien Euch deshalb gewährt. Doch wählt gut und entscheidet weise!«
»Ach«, seufzte der Jüngling eingedenk seiner knappen Zeit. »Ich wünsch mir nur, daß ich rechtzeitig vor Jahresfrist, die Burg erreichen würde, wo meine Brüder und die Prinzessin gefangen gehalten werden.«
»So sei es«, antwortete die Fee und verschwand, während der Jüngling augenblicklich in tiefen Schlaf versank.
Als er wieder erwachte, stand er mit seinem Pferd direkt vor den Toren der Burg, und es war der letzte Tag vor Ende der Jahresfrist. So erfüllte sich des Jünglings erster Wunsch.
Bereitwillig gewährte man ihm Eintritt, und der dunkle Herrscher lachte, als er den schlanken Jüngling sah, der als letzter gekommen war, ihn herauszufordern.
»So wollt auch Ihr mich fordern«, fragte er.
Der Jüngling nickte und erwiderte seinen Blick. »Wie von Euch gewünscht, fordere ich Euch vor Ablauf der Jahresfrist zum Zweikampf«, sagte er. »Sollt´ ich also gewinnen, so gebt meine Brüder und die Prinzessin frei. So ich aber verliere, gehört mein Leben Euch.«
»So werdet Ihr mein Sklave sein, wenn Ihr den Kampf verliert«, stimmte der dunkle Herrscher wohlgemut zu.
Und der Jüngling nickte stumm und ergeben, denn er sah seinen ältesten Bruder, beschwert mit Ketten, wie er Steine trug, und er sah seinen zweiten Bruder voller Schlamm und Dreck im Schweinestall der Burg.
Seines Sieges sicher baute sich der dunkle Herrscher vor ihm auf. Da zog der Jüngling sein Schwert, und ein Stoßseufzer kam über seine Lippen. »Ach, wenn ich doch nur diesen einen Kampf gewinnen könnte, damit meine Brüder und die Prinzessin frei würden.«
Dann klirrten die Waffen. Nur ein einziges Mal trafen ihrer beider Schwerter aufeinander, da geschah es, daß der Usurpator sein Schwert verlor, so daß der Jüngling das seine dem Gegner zum Zeichen des Sieges an den Hals setzen konnte. So erfüllte sich der zweite Wunsch des Jünglings.
Besiegt senkte der dunkle Herrscher den Kopf. »Was immer Ihr wünscht, es soll Euer sein«, knirschte er wütend. Aber bei sich dachte er: »Wenn er die Freigabe seiner Brüder und der Prinzessin wünscht, so soll er ihre toten Körper haben. Denn niemand wird mich besiegen!«
Der Jüngling jedoch dachte daran, wie seine Brüder betrogen worden waren und daran, wie sein Vater ihn verstoßen hatte, und senkte sein Schwert. »Ach«, sagte er dann, »das, was ich mir am meisten wünsche, könnt Ihr mir nicht geben. Denn ich wünscht´ mir nur, daß alle Menschen unserer beider Lande ehrlich zueinander sind und sich liebten und gegenseitig respektierten.«
Und so geschah es, daß der dritte und letzte Wunsch des Jünglings in Erfüllung ging.
Denn wie verwandelt erhob der dunkle Herrscher sich wieder und klopfte dem Jüngling auf die Schulter. »Seid mein Gast«, sagte er. Und sofort ließ er die beiden älteren Brüder befreien und waschen und neu einkleiden. Auch die Prinzessin ließ er rufen, und er veranstaltete ein großes Fest, bevor er die drei Brüder und die Prinzessin endlich ziehen ließ.

Groß war die Freude am Hofe, als die vier dort eintrafen. Hatte doch jeder schon das Land in der Hand des Feindes gewähnt. Der jedoch verhieß nun Frieden, und solange er lebte, stand er dem kleinen Königreich tapfer und treu zur Seite. Gute Zeiten sollten für das kleine Land anbrechen.
Der König schließlich war höchst erfreut über seinen wohlgeratenen und tapferen Schwiegersohn und richtete alsbald die Hochzeit aus, wiewohl seine Tochter den jungen Mann gar über alle Maßen liebte. Schon bei der Hochzeit dankte der alte König ab und überließ die Geschicke des Landes dem jungen Paar. Und der Jüngling ward der beste König, den das Land je hatte, denn er regierte mit Mitgefühl und Ehrlichkeit und hatte für jeden ein offenes Ohr. Sein ältester Bruder aber wurde zu seinem Leibgardist und der zweitälteste zu seinem Barden. Und gar oft lauschte der junge König dem alten König, und seiner Frau, der Prinzessin, sowie seinem Vater, dem Baron, um sich gute Ratschläge bei ihnen zu holen.
Denn um ein guter König zu sein, bedarf es nicht des Könnens eines Kriegers oder der glatten Zunge eines Barden - nur der Weisheit und Güte bedarf es, und über die verfügte der jüngste Sohn des Barons über alle Maßen.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute...

Petra E. Joerns