Freitag, 30. November 2012

A. de Nora: Das lockende Blut


Keine Fabeln, aber fabelhafte Erzählungen und Gedichte hat der heute leider zu Unrecht vergessene Münchner Arzt und Schriftsteller A. de Nora (1864 - 1936) (Pseudonym für Anton Noder) geschrieben. Den Nationalsozialisten war er nicht genehm, weil er sich all zu offen gegen den Antisemitismus gestellt hatte. Nach dem Krieg waren die Jungen nicht mehr an den alten Schriftstellern interessiert und da er nicht mehr lebte, wie manch anderer Angepasste, konnte er sich auch nicht mehr in Erinnerung bringen. Sein Verlag – L. Staackmann - kümmert sich heute nur noch um das Werk Peter Roseggers sowie vor allem um Sachliteratur (Naturheilkunde, Geschenkbücher u.a.).

Bekehrung

Ich liebt‘ einmal ein Mädel
Ein jung‘ frisches Weib,
Gold’ne Gedanken im Schädel
Ein golden‘ Herz im Leib.

Da sind die Pfaffen gekommen
Und haben der armen Dirn‘
All, all ihr Gold genommen
Aus Herzen und Hirn.

Und haben dem süßen Geschöpfchen
Die Seele erfüllt mit Nacht
Und in das lustige Köpfchen
Gott und den Teufel gebracht.

Nun wird sie ja wohl erwerben
Die himmlische Seligkeit,
Und muß sie auch vorher sterben
An irdischem Herzeleid.

(aus: Stürmisches Blut, 1924)


Einige Erzählungen und Gedichte von A. de Nora habe ich in einem E-Book zusammen gestellt, das im Kindle Shop zu finden ist.


Der Adler und der Rabe


Ein Adler flog dem Himmel zu,
Da krächzt ein Rabe: »Schwängest du
dich bis zur Sonne selbst empor,
Was ist dein Vorteil, stolzer Thor?
Dort oben fällt dir nichts zum Raub.«
Da rief der Adler: »Du hast Recht,
Raub giebt’s dort nicht, doch mein Geschlecht
Liebt Luft und Licht – und haßt den Staub.«

Julius Sturm
Neues Fabelbuch
Leipzig, 1881

Dienstag, 27. November 2012

Buddha fürn Pott

Buddha in Pott? Hömma, watt hat der den da valorn? Hamwa nich schon mitti ganzen Salafitis un Moslembrüder innen Revier genuch zu schaffen? Un gez auch noch die Buddha-Jünger? Aintlich waan die doch schon lange nich mehr zu sehn inne Fußgängerzonen, die mit ihre oranschenen Klamotten. Wie? Die hatten nix mit Buddha am Hut? Dat musse mich gez aba ma genau vaklickern. Kein Problem? Muss ich nur dies ibuk lesen? Na dann ma her damit

 

Montag, 26. November 2012

Der Sperling und die Schwalbe


Die friedsame Schwalbe hatte ruhig den kalten, nahrlosen Winter durchschlafen, und kam nun, von der allbelebenden Sonne des Lenzes erweckt, zur Wohnung ihres gastfreundlichen Wirthes zurück. Noch hing unter dem Schirmbrette des Firstes ihr Nestchen; ein räubrischer Sperling aber bemächtigte sich ihres durch Fleiß erworbenen Eigenthums, und besetzte es mit seiner verderblichen Brut. Zu schwach, mit dem Stärkern zu rechten, baute das Schwälbchen gelassen eine neue Wohnstatt, und deckte, nach kurzer Zeit, fünf Kinder mit wärmenden Flügeln. Gleichviel junge Schreyer waren indess im Neste des Sperlings zum Abflug reisefertig; als die Kinder des Hauswirths auf einer Leiter das Schirmbrett besteigen, und die Sperlingszucht haschten und würgten.
Merkt Kindelein! sprach itzt die fromme Schwalbe zu ihren noch unbefiederten Kleinen, merkt euch das Sprichwort:
Unrechtes Gut kommt selten auf den dritten Erben.
 

Johann Ferdinand Schlez

Donnerstag, 22. November 2012

Fabelhafte Fabelbücher (Rezension)

Wer Fabeln liebt, möchte sie auch gelegentlich nachlesen. Das Angebot an alten und neuen Fabelbüchern ist groß, doch welches soll man wählen. Eine kleine Hilfe versucht die folgende Übersicht zu geben.

Das große Fabelbuch von Constanze Breckhoff und Gerhard Glück (Lappan Verlag) ist ein Prachtband, der nicht nur eine repräsentative Auswahl Fabeln von Aesop bis Wilhelm Busch und verschiedener Völker bringt, sondern auch noch schön und angemessen illustriert (G.Glück) ist. Das Buch ist nicht nach Zeitalter sortiert, sondern bunt gemischt. Ein guter Tipp für diejenigen, die gerne in guten Büchern schmökern und eine gute »Fabelgrundausstattung«.



Wer sich speziell für die Fabeln des Aesop interessiert, greift statt der zu Hauf verfügbaren Billigausgaben diverser Nachdruckverlage besser auf die Neuübersetzung von Thomas Voskuhl aus dem Reclam-Verlag.



Wem es nicht so auf sprachliche Genauigkeit ankommt, dafür aber auf sprachliche Schönheit, sollte sich die von Fulvio Testa illustrierten Ausgabe von Gisbert Haefs ansehen.




Die Fabeln des Jean de LaFontaine liegen in der Übersetzung von Ernst Dohm in einer umfangreichen und illustrierten Gesamtausgabe vor (mehr als 500 Seiten).



Wer es etwas karger und preiswerter möchte, wählt die Reclam Ausgabe (Übersetzer: Jürgen Grimm), die immerhin auch die Illustrationen von Gustave Doré enthält.



Lessings Fabeln liegen in einer schönen Taschenbuchausgabe des Fischer-TB-Verlages vor. Sie enthält außerdem auch die »Abhandlungen über die Fabel«.



Sie sind nicht jedermanns Geschmack und kommen heute arg belehrend daher, aber wer sie mag, die Kinderfabeln des Wilhelm Hey, findet 50 davon in einem preiswerten Taschenbuch:



Luthers Fabeln und Sprichwörter
findet man in einer schönen Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Illustriert mit Abbildungen und Holzschnitten aus der Werkstatt von Lukas Cranach:



Deutsche Fabeln des 18. Jahrhunderts sind repräsentativ in einem Bändchen des Reclam-Verlages zusammen gestellt. Es ist sehr zu empfehlen, denn darin sieht man, dass es neben Lessing, Gellert & Gleim noch zahlreiche andere Fabeldichter in dieser Zeit gab.



Zum Abschluss Johann Wolfgang von Goethe. Seine längere Fabeldichtung um »Reineke Fuchs« ist wunderschön Illustriert von Dieter Wiesmüller in diesem Prachtbuch aus dem Hanser-Verlag. Ein Buch nicht nur für Kinder. Oder anders gesagt: Ein Buch, das Erwachsene, die es sich gekauft haben, auch an Kinder aushändigen können.




Horst-Dieter Radke

Sonntag, 18. November 2012

Doppelte Moral

Ein Wolf war in eine tiefe Grube gefallen. Er glaubte nichts anderes, als daß elendiglich umkommen müsse. Da kam in der höchsten Not eine Herde Schafe vorbei.

Der Wolf bat in den kläglichsten Tönen um Hilfe, und da er die Sittenstrenge und Frömmigkeit der Schafe kannte, hielt er ihnen vor, wie ungerecht es wäre, ein Leben verderben zu lassen, das man retten könne. Endlich erklärte er, wenn sie ihm aus der Grube helfen würden, dann verspreche er ihnen bei allem, was einem Wolfe heilig sei, nie mehr in seinem Leben ein Schaf zu fressen.

Durch dieses Versprechen ließen sich die Schafe betören und halfen dem Wolf aus der Grube.

Kaum war Meister Isegrim aber aus seinem Gefängnis befreit, da stürzte er auch schon trotz Versprechen und Schwur unter die Herde und griff sich ein junges Schaf heraus. Die übrigen suchten so rasch sie konnten dem wortbrüchigen Räuber zu entfliehen.

Das arme Opfer der Leichtgläubigkeit zitterte am ganzen Körper vor Angst und bat um sein Leben. Doch der Wolf blieb ungerührt.


In seiner Verzweiflung nahm das junge Schaf Zuflucht zu den Sittenlehren, in denen es von einem alten Hammel unterrichtet worden war.

„Weißt du nicht“, fragte es mit bebender Stimme, „daß es ein schwerer Frevel ist, ein Leben zu vernichten?“

„Nach dem Sittengesetz der Schafe“, war die spöttische Antwort.

„In der Grube hast du dich doch selbst auf dies Gesetz berufen und uns Freundschaft geschworen.“

„Da war ich auch in der Not und brauchte eure Hilfe.“

„Aber und kannst doch unmöglich zur Zeit der Not eine andere Moral haben als dann, wenn es dir gut geht, und nicht einen Vertrag jetzt beschwören, um ihn in der nächsten Minute zu brechen.“

Der Schafdieb grinste zynisch: „Von einem Wolf darfst du nicht verlangen, daß er nach den Grundsätzen der Schafe leben soll.“

„Es muß aber doch ein Sittengesetzt geben, von dem auch die Handlungen eines Wolfes geleitet werden“, ächzte das verzweifelte Schaf.

„Was ich tun darf und unterlassen muß wird nur von meiner Stärke und Bewegungsfreit bestimmt.“

„Das ist ja eine entsetzliche Moral!“

„Entsetzlich für Schafe“, sagte der blutgierige Räuber, „aber nicht für Wölfe!“

Und damit zerriß er das moralische Schaf und fraß es auf.



Felix Fechenbach

Samstag, 17. November 2012

Herr Fix und Fertig

Fix und Fertig war lange Zeit Soldat gewesen, weil aber der Krieg ein Ende hatte und nichts mehr zu thun war, als einen und alle Tage dasselbe, nahm er seinen Abschied und wollte Lakai bei einem großen Herrn werden. Da gabs Kleider mit Gold besetzt, viel zu schaffen und immer was Neues. Also machte er sich auf den Weg und kam an einen fremden Hof, da sah er einen Herrn, der in dem Garten spazieren ging. Fix und Fertig besann sich nicht lang, trat frisch auf ihn zu sagte: »mein Herr, ich suche Dienste bei einem großen Herrn, sinds Ew. Majestät selbst, so ist mirs am liebsten, ich kann und weiß alles, was dazu gehört, kurz und lang, wies befohlen wird.« Der Herr sagte: »recht, mein Sohn, das wäre mir lieb, sag an, was ist anjetzt mein Verlangen?« Fix und Fertig ohne zu antworten drehte sich um, lief eilend und brachte eine Pfeife und Taback. »Recht, mein Sohn, du bist mein Bedienter, aber nun gebe ich dir auf, mir die Prinzessin Nomini zu schaffen, die schönste auf der Welt, die will ich zu meiner Gemahlin haben.« – »Wohlan, sagte Fix und Fertig, das ist mir ein kleines, die sollen Ew. Maj. bald haben, geben Sie mir nur eine Chaise bespannt mit Sechsen, einen Leibkutscher, Haiducken, Laufer, Lakaien, Koch und einen völligen Staat, mir selbst aber fürstliche Kleider, und jedermann muß meinen Befehlen gehorchen.« Nun, fuhren sie ab, der Herr Bedienter saß in der Kutsche und es ging immer dem königlichen Hof zu, wo die schöne Prinzessin war. Als die Chaussee zu Ende war, fuhren sie ins Feld hinein und kamen bald vor einen großen Wald, der war voll von vielen tausend Vögeln, da war ein grausamer Gesang, prächtig in die blaue Luft hinein. »Halt! halt! rief der Fix und Fertig, die Vögel nicht gestört! die preisen ihren Schöpfer und wollen mir wieder einmal dienen, links um!« der Kutscher mußte also umdrehen und um den Wald herumfahren. Darnach währte es nicht lang, so kamen sie an ein großes Feld, da saßen an die tausend Millionen Raben, die schrien nach Speise überlaut. »Halt! halt! rief der Herr Fix und Fertig: bind eins von den vordersten Pferden los, führ es aufs Feld und stichs todt, daß die Raben gespeist werden, die sollen meinetwegen keinen Hunger leiden.« Nachdem die Raben gesättigt waren, ging die Reise weiter und sie kamen an ein Wasser, darin war ein Fisch, der klagte erbärmlich: »um Gotteswillen! ich habe keine Nahrung in diesem schlechten Sumpf, setzt mich in ein fließendes Wasser, dafür will ich euch einmal gegendienen.« Eh er noch ausgeredet, hatte Fix und Fertig halt! halt! gerufen; »Koch nimm ihn in die Schürze, Kutscher fahr zu nach einem fließenden Wasser.« Fix und Fertig stieg selber aus und setzte ihn hinein, daß der Fisch vor Freude mit dem Schwanz schlug. Herr Fix und Fertig sprach: »laßt nun die Pferde rasch laufen, daß wir zu Abend noch an Ort und Stelle sind.« Als er in der königlichen Residenz anlangte fuhr er gerade nach dem besten Gasthof, der Wirth und alle seine Leute kamen heraus, empfingen ihn aufs beste und meinten, ein fremder König sey angekommen, und es war doch nur ein Herr Bedienter. Fix und Fertig aber ließ sich gleich bei dem königlichen Hof anmelden, suchte sich beliebt zu machen und hielt um die Prinzessin an. »Mein Sohn, sagte der König, dergleichen Freier sind schon viele abgewiesen worden, weil keiner hat ausrichten können, was ich ihnen auferlegt hatte, um meine Tochter zu gewinnen.« »Wohlan, sprach Fix und Fertig, geben Ew. Majestät mir nur was rechtes auf.« Der König sagte: »ich habe ein Viertel Mohnsamen säen lassen, kannst du mir denselben wieder herbei schaffen, daß kein Korn fehlt, so sollst du die Prinzessin für deinen Herrn haben.« Hoho! dachte Fix und Fertig, das ist ein geringes für mich. Nahm darauf ein Maaß, Sack und schneeweiße Tücher, ging hinaus, und die letztern breitete er neben das besäte Feld hin. Gar nicht lange, da kamen die Vögel, die im Walde bei ihrem Singen nicht waren verstört worden, und lasen den Samen, Körnchen für Körnchen auf und trugen ihn auf die weißen Tücher. Als sie alles aufgelesen hatten, schüttete es Fix und Fertig zusammen in den Sack, nahm das Maaß unter den Arm, ging zu dem König und maaß ihm seinen ausgesäten Samen wieder zu, gedachte nun die Prinzessin wäre schon sein – aber gefehlt: »noch eins, mein Sohn, sagte der König, meine Tochter hat einstmals ihren goldnen Ring verloren, denselben mußt du mir erst wiederschaffen, eh du sie bekommen kannst.« Fix und Fertig machte sich keine Sorgen: »lassen Ew. Majestät mir nur das Wasser und die Brücke zeigen, wo der Ring verloren worden, so soll er bald herbeigeschafft seyn.« Als er hingebracht war, sah er hinab, da schwamm der Fisch herzu, den er auf seiner Reise in den Fluß gesetzt hatte, streckte den Kopf in die Höhe und sagte: »wart einige Augenblicke, ich fahre hinunter, ein Wallfisch hat den Ring unter der Floßfeder, da will ich ihn holen;« kam auch bald wieder und warf ihn ans Land. Fix und Fertig bracht ihn zum König, dieser aber antwortete: »nun noch eins, in jenem Walde ist ein Einhorn, das hat schon vielen Schaden gethan, wenn du das tödten kannst, dann ist nichts mehr übrig.« Fix und Fertig bekümmerte sich auch hier nicht groß, sondern ging geradezu in den Wald. Da waren die Raben, die er einmal gefuttert und sprachen: »noch eine kleine Weile Geduld, jetzt liegt das Einhorn und schläft, aber nicht auf der scheelen Seite, wenn es sich herumdreht, dann wollen wir ihm das eine gute Auge, das er hat, auspicken, dann ist es blind und wird in seiner Wuth gegen die Bäume rennen und mit seinem Horn sich festspießen; dann kannst du es leicht tödten.« Bald wälzte sich das Thier ein paar Mal im Schlaf herum und legte sich auf die andere Seite, da flogen die Raben herunter und hackten ihm sein gesundes Auge aus. Wie es die Schmerzen empfand, sprang es auf und rennte unsinnig im Wald herum, bald auch hatte es sich in eine dicke Eiche festgerennt. Da sprang Fix und Fertig herbei, hieb ihm den Kopf ab, und brachte ihn dem König. Dieser konnte nun seine Tochter nicht länger versagen, sie ward dem Fix und Fertig übergeben, der sich gleich in vollem Staat, wie er gekommen war, mit ihr in die Kutsche setzte, zu seinem Herrn fuhr und ihm die liebevolle Prinzessin brachte. Da ward er wohl empfangen, und in aller Pracht Hochzeit gehalten; Fix und Fertig aber wurde erster Minister.

Ein jegliches in der Gesellschaft, wo dies erzählt wurde, wünschte auch bei dem Vergnügen zu seyn, eins wollte Kammerjungfer, das andere Garderobemädchen werden, dafür wollte einer Kammerdiener, der andere Koch werden u.s.w.

Jacob und Wilhelm Grimm
Kinder- und Hausmärchen
Band 1, Berlin 1812/15

Mittwoch, 14. November 2012

Jupiter und Minis

»Was führt so Viele zu der Hölle Abgrund hin?« –
Sprach Jupiter zu Minis einst . »Sucht nach Gewinn?«
»O nein! dem Müßiggang allein
Kann man mit Recht die Unheil zeih’n!«


Jean-Pierre Claris de Florian
frei metrisch bearbeitet von
Conrad Samhaber
kgl. Kreis- und Stadtgerichts-Rahte zu Fürth
München, 1834

Samstag, 10. November 2012

Der dunkle Pfad - als E-Book


Die fantastische Erzählung »Der dunkle Pfad«, die im Frühjahr d.J. als Heftchen in der Reihe BunTES Abenteuer erschien, liegt nun auch als E-Book vor. Um einige Fehler bereinigt, sonst textidentisch. Die Ausgabe für Amazons Kindle wurde ohne DRM erstellt, kann also nach dem Kauf auch konvertiert (z.B. mit Calibre) und auf anderen Readern gelesen werden.

Horst-Dieter Radke



Mittwoch, 7. November 2012

Vom Drachen

 
Drache in der Marien-Bergkirche Laudenbach (bei Weikersheim)

Es waren einmal Mann und Frau, die hatten drei Töchter; die älteste und die jüngste spannen, die mittlere aber machte sich auf dem Hof zu schaffen. Der Vater arbeitete vom Morgen bis zum Abend auf dem Felde; und als er eines Tages nach Hause kam, sprach er zu seiner Frau: »Warum schickst du mir kein Mittagessen hinaus? Ich plage mich dort den ganzen Tag und pflüge und hab davon einen mächtigen Hunger. Schick mir morgen die älteste Tochter mit dem Essen.« Die Älteste weigerte sich aber und sagte zum Vater: »Ich bring es Euch nicht hinaus, denn ich weiß nicht, wo Euer Feld liegt.« Er antwortete jedoch: »Du wirst es schon finden; morgen, wenn ich aufs Feld gehe, werd ich an einem Stock schnitzeln; dann halt dich nur an die Späne, und so wirst du zu mir gelangen.«
Am nächsten Tage ging der Bauer aufs Feld und schnitzelte unterwegs am Stock, aber der Drache hatte davon erfahren und pustete die Späne weg, so daß sie nun zu seiner Hütte führten. Als die Zeit kam, das Mittagessen hinauszutragen, ging die älteste Tochter fort, erblickte die Spur und folgte ihr. Sie wanderte und wanderte, und schon fing es an zu dunkeln, aber vom Vater war noch immer nichts zu sehen. Da kam sie ein großes Verlangen an zu essen; sie setzte sich am Wege nieder, aß sich satt, stand wieder auf und ging weiter. Noch war sie aber keine ganze Werst weitergekommen, als sie ein Hüttchen erblickte und ein Feuer darin. Da bekreuzigte sie sich und sagte: »Gott sei Dank, da ist endlich mein Vater!« Sie trat in die Hütte und sah: dort aß der Drache sein Abendbrot! Da sprach der Drache zu ihr: »Komm und iß!« Doch sie antwortete ihm: »Ich will nicht.« Jetzt schrie er sie aber an: »Ich sage dir: setz dich hin und iß!« Sie erwiderte jedoch: »Ich hab schon gegessen, trug dem Vater das Mittag hinaus, aber fand ihn nicht, darum aß ich's selber auf.« Der Drache brüllte sie nochmals an: »So komm und iß auch bei mir!« Da blieb ihr nichts anderes übrig, sie setzte sich hin und aß mit ihm zu Abend. Das Fleisch aber war süß, denn es war von Menschen. Und als sie gegessen hatten, legten sie sich schlafen. Das Mädchen stand früh auf, der Drache jedoch noch früher. Er sprach zu ihr: »Jetzt sollst du mein Weib sein; da hast du die Schlüssel und einen Apfel; geh durch alle Zimmer und Scheunen, aber hier, in diese zwei Kammern, geh nicht hinein.« So sprach er und flog davon.


Sie ging dann in alle Zimmer hinein und erblickte ganze Zuber voll Gold, Silber und Kupfer. Es lockte sie aber auch heftig, in jene zwei Kammern hineinzuschauen; sie öffnete sie, trat ein und stöhnte vor Entsetzen, denn Leichen lagen in der ersten Kammer, und in der zweiten standen Zuber voller Blut! Sie schaute hinein und ließ den Apfel fallen. Zwar nahm sie ihn heraus und wusch ihn, aber am Stengel blieb ein wenig Blut kleben. Dann kam der Drache wieder angeflogen und verlangte gleich den Apfel von ihr. Sie gab ihn her, der Drache besah sich ihn und fragte: »Bist du in die Kammern hineingegangen?« – »Nein, ich bin nicht hineingegangen!« – »Du lügst, verfluchtes As, denn du bist doch drin gewesen!« Er nahm ein Beil, schlug ihr den Kopf ab und warf die Leiche in die Kammer. Kam der Vater am Abend nach Hause und sagte zu seiner Frau: »Warum hast du mir kein Essen geschickt?« – »Schau einer den an! ich hab's dir doch geschickt! Noch immer ist die Älteste nicht zurück; vielleicht hat sie sich verirrt.« – »Na, schwatz keinen Unsinn, aber schick mir morgen die jüngste Tochter hin; ich werd aufs Feld gehn und Asche streuen.«
Am nächsten Tage ging er fort und streute Asche auf den Weg, der Drache aber blies sie wieder zu seiner Hütte. Als es Mittagszeit wurde, schickte die Mutter die jüngste Tochter mit dem Essen zum Vater, und sie ging den Spuren der Asche nach. Sie wanderte lange, lange, und es fing schon an zu dunkeln, aber vom Vater war noch nichts zu sehen. Da setzte sie sich nieder und aß von dem Mitgebrachten; und da nach stand sie wieder auf und ging weiter. Auf einmal erblickte sie eine Hütte, und die war erleuchtet. Die Tochter bekreuzigte sich und sagte: »Gott sei Dank! dort wird doch endlich wohl mein Vater sein.« Sie trat in die Hütte ein, erblickte den Drachen und wünschte ihm einen guten Abend. »Willkommen, mein gutes Kind! Wie hast du dich hierher verirrt?« fragte der Drache. Sie antwortete: »Ich hab dem Vater das Essen hintragen wollen und mich dabei zu Euch verirrt.« – »Nun, dann leg dich schlafen, wenn es so ist«, sagte der Drache. Und die Tochter legte sich nieder. In der Früh, als sie aufstand, sprach der Drache zu ihr: »Sei von nun ab meine Frau; hier hast du die Schlüssel und einen Apfel und geh überall herum, nur in diese zwei Kammern geh nicht hinein!« Und dann flog er davon. Es lockte sie aber gar sehr, in die beiden Kammern hineinzugehen. Sie öffnete die eine, erblickte dort ihre Schwester und fing an zu weinen; dann öffnete sie auch die zweite, erblickte dort die Zuber und beugte sich vor, um hineinzuschauen, da fiel ihr aber der Apfel aus dem Busen. Sie nahm ihn heraus und wusch ihn ab, doch am Stengel blieb ein wenig Blut kleben. Der Drache kam angeflogen und befahl: »Trag das Abendbrot auf!« Sie brachte ihm das Essen, und als er satt geworden war, fragte er: »Bist du in die Kammern gegangen?« – »Nein, ich bin nicht hineingegangen!« – »Dann zeig mir den Apfel her!« Er besah sich den Apfel, ergriff ohne ein Wort zu sagen das Beil, hackte ihr den Kopf ab und warf die Leiche in die Kammer. Der Bauer aber kam wieder nach Hause zurück und sagte zu seiner Frau: »Warum hast du mir das Essen nicht hinausgeschickt?« – »Wieso hab ich's dir nicht geschickt? Jetzt ist schon die zweite Tochter fort und kommt nicht zurück.« – »Na, dann schick mir morgen die dritte!« Die mittlere Tochter aber kam zum Vater und sagte: »Ich weiß den Weg nicht aufs Feld.« – »Dann will ich Kartoffeln auf den Weg streuen«, antwortete der Vater, »so wirst du mich schon finden.«


Am andern Tage ging er wieder pflügen und streute auf dem Wege Kartoffeln aus, aber der Drache blies sie wieder zu seiner Hütte. Und als es Mittagszeit wurde, schickte die Mutter die zweite Tochter mit dem Essen, und sie ging der Spur nach. Es fing schon an zu dunkeln, doch vom Vater war noch nichts zu sehen. Sie setzte sich nieder, aß ihr Abendbrot, stand wieder auf und ging weiter; da sah sie eine Hütte und ging auf sie zu. Sie trat ein und erblickte den Drachen beim Abendessen. Der Drache sprach zu ihr: »Setz dich hin und iß!« Sie setzte sich und fing an zu essen, und hernach legten sie sich beide nieder. Als die Tochter am Morgen aufstand, sagte der Drache zu ihr: »Sei von nun ab meine Frau; hier hast du die Schlüssel und einen Apfel; geh überall umher, aber nur in diese zwei Kammern geh nicht hinein!« Und dann flog er davon. Es lockte sie sehr zu sehen, was wohl in den beiden Kammern sein möge, in die hineinzugehen der Drache ihr verboten hatte. Sie öffnete die eine und erblickte dort ihre Schwestern; da schloß sie die Kammer schnell ab und ging wieder in die Hütte. Der Drache kam angeflogen und fragte: »Bist du in die Kammern hineingegangen?« – »Nein, ich bin nicht hineingegangen!« – »Zeig mir aber mal den Apfel her!« Sie reichte ihm den Apfel, und der Drache sagte darauf: »Nun, es ist wahr, du bist nicht drin gewesen.«


Am nächsten Tage sprach sie zum Drachen: »Ich fühl es, daß es meinem Vater schlecht geht.« Er antwortete ihr: »Hab ich denn so wenig Gold und Silber? Nimm, soviel du willst und schick es ihm!« Da ging sie in den Garten, fing eine Krähe und befahl ihr: »Bring mir das Wasser des Lebens und des Todes, sonst zerreiß ich dich!« Die Krähe flog davon und brachte ihr von dem Wasser. Nun ging die Tochter in die Kammer, bespritzte ihre Schwestern, legte sie in eine Truhe und sperrte sie ab; dann ging sie zum Drachen und sagte: »Nimm hier diese Truhe und trag sie zu meinem Vater!« Und der Drache trug sie fort. Nach ein paar Jahren gebar die Tochter einen Sohn: halb ein Drache, halb ein Mensch. Und wieder sprach sie zum Drachen: »Ich fühl es: meinem Vater geht es schlecht!« – »Na, dann pack Gold zusammen und schick es ihm«, sagte der Drache. Da legte sie Gold in eine Truhe, hackte ihr Kind in zwei Hälften und warf sie in die Kammer; dann ging sie zum Drachen und sprach zu ihm: »Trag doch diese Truhe zum Vater, ich aber will zur Gevatterin gehn.« Sie ging hinaus, kroch in die Truhe und sperrte sich ein. Der Drache hob die Truhe auf und brachte sie fort. Als er aber nach Hause kam, merkte er, daß die Frau nicht mehr da war. Nun erkannte er, daß sie ihn betrogen hatte, aber es war nichts mehr zu machen.

August Löwis of Menar
Russische Volksmärchen
Jena, 1927

Dienstag, 6. November 2012

Die Eule und der Sperling


»Unverschämter! Stiehlst du nicht Kirschen am hellen lichten Tage, vor den Augen aller? O! schreckliche Frechheit!« so rief eine Eule einem Sperling zu, der sich auf einem Kirschbaum gütlich tat. »Freilich ist es edler«, erwiderte der Sperling, »bei Nacht, wenn alle Tiere sorglos schlafen auf Mord und Raub auszugehn.«

Novalis

Freitag, 2. November 2012

Vom Nacktspielen

Gestern freute ich mich sehr. Förster Fröhlich kam mit Erich und Marie zu Besuch. Erst gabs Kaffee mit frischen Waffeln, dann spielten wir Versteck auf dem Hof und Brückenmännchen; das war lustig.
Nachher gingen wir auf die Wiese und machten Kränze aus Gänseblümchen und lange Ketten von Nußblättern; damit putzten wir unsre Haare und Kleider. Aber ich sagte: Wißt ihr was? das Spiel muß viel hübscher sein, wenn wir nackend sind. Und wir liefen hinter das Gartenhaus, wo uns niemand sehn konnte, und zogen uns aus.
Unsre Kränze hingen wir uns um den Hals und um die Schultern, und dann faßten wir uns an und gingen in der Sonne spazieren. Wir spielten alte Griechen. Erich war der Prinz Paris und sollte der Schönsten einen Apfel schenken. Er fand uns aber alle beide am schönsten und aß den Apfel selber auf; da mußten wir sehr lachen.
Plötzlich kam meine Mutter. Sie sah ganz erschrocken und zornig aus. Schämt ihr euch denn nicht, ihr großen Kinder, sagte sie; sofort zieht ihr euch wieder an!
Die kleine Marie fing an zu weinen, und wir suchten rasch unsre Kleider.
Ich war fast böse auf meine Mutter. So schrecklich unartig waren wir doch garnicht gewesen. Und geschämt hatte ich mich eigentlich auch nicht. Das tue ich blos wenn mich einer sehr lobt, oder wenn ich was Dummes gemacht habe.
Und Mutter fragt mich doch nie, ob ich mich schäme, wenn ich in der Badewanne sitze und sie mich abseift; und da bin ich doch auch nackt.
Und das Spiel war so lustig, und die Nußblätter sahen so grün und frisch aus auf unsrer weißen Haut. Blos ein bißchen bange war mir gewesen, ob ich die Schönste sei – ja, das ist wahr –
Ob Mutting vielleicht doch Recht gehabt hat? – –

Paula Dehmel
aus: Singinens Geschichten