Sonntag, 29. Juli 2012

Was ich selber tu, trau ich andern zu


Die Nachtigall saß in einem Garten und sang ihr Lied den Menschen zur Freude. Da kam die Elster und wollte wissen, warum die Nachtigall singe.
»Weil ich die Menschen damit erfreue«, sagte die kleine Sängerin.
»Und warum willst du sie erfreuen?« forschte die Elster weiter.
»Weil es gut ist, anderen Freude zu machen.«
»Aber warum tust du das Gute?«
»Um des Guten willen«, war die einfache Antwort der arglosen Nachtigall.
Da lachte die Elster höhnisch auf.
»Um des Guten willen!« äffte sie krächzend nach. »Um des Goldes willen singst du den menschen. Bestochen bist du, bestochen mit dem Golde der Menschen!«
Die Nachtigall würdigte die Verleumderin keiner Antwort und wandte ihr nur verächtlich den Rücken.
Die geschwätzige Elster aber eilte, ihren Schwerstern die große Neuigkeit zu erzählen, daß sich die Nachtigall von den Menschen habe bestechen lassen. Und weil die Elstern und alle, die ihnen verwandt sind, nichts ohne eigenen Vorteil unternehmen, so konnten sie sich in ihrer gemeinen Denkungsart auch gar nicht vorstellen, daß es einen Vogel gebe, der aus anderen als eigennützigen Motiven handle.
Sie hielten es deshalb für ausgemacht, daß die Nachtigall von den Menschen bestochen sein müsse; und sie verbreiteten diese Mär unter allen Vögeln.
Die Nachtigall aber ließ die Elstern schwätzen und sang ihr Lied den Menschen zur Freude…

aus: Mein Herz schlägt weiter

2 Kommentare:

Lebenskünstler hat gesagt…

Eine Fabel, mal wieder wie im richtigen Leben! Ich bin erschrocken und getröstet zugleich...

Fabelhaft hat gesagt…

Das macht gute Fabeln aus, das sie dicht am Leben sind, das man erschrickt … und doch daraus Trost zieht. Das Erkennen des Mangels ist schon der erste Schritt zum abstellen.