Sonntag, 6. Mai 2012

Der Vogel Greif


Ohne Wolken steht der Himmel,
Ohne Welle ruht das Meer,
Doch viel schreckliches Gewimmel
Rührt sich um das Schifflein her.

Grimme Haye, Ungeheuer,
Leichen wittern sie am Bord,
Und die Raben wie die Geier
Suchen Atzung an dem Ort.

In dem Schiff‘ am Felsenstrande
Liegen bleich und starr und stumm
Fern von Rettung, fern vom Lande
All‘ die Männer rings herum.

Unter ausgeleerten Kisten
Sucht der Steuermann nach Brod,
Will das zähe Leben fristen
Um ein Stündlein herber Noth.

Heinrich wickelt ein die Leichen,
Senkt sie in des Meeres Grab,
Macht des heil’gen Kreuzes Zeichen,
Möchte stürzen mit hinab.

Seine Augen zugedrückte
Liegt er nun im schweren Traum;
Plötzlich fühlt er sich entrücket
Hoch empor zum Himmelsraum.

Flügelschläge hört er schallen,
Rauschen langen Federschweif,
Und er ruht in Eisenkrallen,
Und ihn trägt der Vogel Greif.

Himmelhohe Felsen ragen,
Heinrich Hält den Schwertknauf fest,
Hat den Greif sammt Brut erschlagen
Mitten drin in seinem Nest.

Ueber Berge, durch die Wüste
Zog der Held zur heil’gen Stadt,
Und er betete und büßte,
Wo der Herr geduldet hat.

aus dem Zyklus: Heinrich, der Löwe
von Julius Mosen
Gedichte, Leipzig, 1836

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