Donnerstag, 10. Mai 2012

Der Greif auf der Brücke


Gerade wollte er sich über das Geländer schwingen um sich in den Rhein zu stürzen, da hielt er inne. Ob es ein Luftzug war, oder ob er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen hatte – er wusste es nicht zu sagen. Aber als er den Kopf wandte, sah er dieses Wesen da sitzen, ruhig, mächtig, still, abwartend. Er hatte nie dergleichen gesehen. Ein kräftiger Leib wie von einem Löwen mit ebensolchen Pranken hinten und Klauen wie bei einem Geier vorne. Schwingen wie bei einem Adler und den Kopf eines Falken.
„Ein Greif“, sagte er. „Das ich so etwas noch einmal erleben darf“.
Das Wesen schwieg ihn vielsagend an.
„Oder ob ich schon hinüber bin, in die andere Welt? Bin ich schon nach dem Sprung?“ Er sah sich um, schaute vom Geländer in das dunkle Wasser. Nein, er stand eindeutig noch oben. Wieder sah er hin in der Erwartung, dass kein Greif mehr zu sehen war, sah hin in der Hoffnung, einer Sinnestäuschung unterlegen zu sein. Aber es half nicht, der Greif saß noch immer da und sah ihn mit seinen klugen Augen an.
„Freund, was hattest du vor?“
Hatte der Greif gesprochen? Oder klang die Frage nur in seinem Kopf.
„Wolltest du von der Brücke in den Tod springen? Einfach so?“
„Was soll ich auch sonst noch machen?“ antwortete er spontan und erbittert. Tränen traten ihm in die Augen. „Ist denn ein Weiterleben noch möglich?“
„Doch“, sagte der Greif. „Das ist immer möglich. Bis zum letzten Tag.“
„Wann ist der letzte Tag?“
„Der deines Todes.“
„Der jetzt gekommen ist.“
Wieder fasste er das Geländer. Aber er konnte nicht springen, konnte nicht hinüber. Er versuchte zu wollen. Aber auch das ging nicht mehr.
„Es liegt nicht in deiner Hand, zu bestimmen, wann der Tod gekommen ist.“
„Niemals?“
„Meistens nicht“, sagte der Greif.
„Also manchmal doch.“
„Aber nicht für dich.“
„Die Welt ist ungerecht“, sagte er, die Hand noch am Geländer. Aber er wusste schon, dass er nicht mehr springen würde.
„Und was nun? Man sagt doch, dass der Greif selbst den Basilisken vertreiben kann. Kannst du da nicht die paar Steuerfahnder, Bankrevisoren und Gläubiger für mich vertreiben? In den Wind blasen, mit den Krallen zerfetzen. Aus dem Weg räumen?“
„Warum sollte ich das tun?“ fragte der Greif. „Tun sie etwas unrechtes?“
Er schwieg.
„Du hast die Kraft, das auszuhalten“, sagte der Greif. „Du hast die Stärke, das wieder hinzubekommen.“
Er schüttelte den Kopf, aber er wusste, dass es stimmt.
Der Greif legte den Kopf in den Nacken und stieß einen Schrei aus, der schrill und laut jeden anderen in die Flucht getrieben hätte. Ihn machte er er aber zuversichtlich, gab ihm Kraft. Er musste lachen.
„Du hast recht“, sprach er. „Das sind Peanuts im Vergleich zu den Problemen, die meine Frau und meine Kinder hätten, spränge ich da jetzt hinab.“
Der Greif erhob sich in die Lüfte und flog mit kräftigen Flügelschlägen davon. Er sah ihm noch lange nach.
„Gehen wir’s an“, sagte er, drehte sich um und ging davon. Und fast war es, als lächelte er dabei.

Horst-Dieter Radke

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