Dienstag, 11. Oktober 2011

Die Eiche und das Schilfrohr


Zum Schilfrohr sprach einmal die Eiche:
»Ich finde, daß du Grund zur Klage hast,
Ein winziger Vogel schon wird dir zur Last,
Der schwächste Windhauch, der im Teiche
Das Wasser kräuselt, biegt dir fast
Den Kopf zur Erde, während ich mein Haupt,
Stolz wie der Kaukasus, nicht nur dem Licht,
Nein, auch dem Sturm entgegenhebe,
Und da, wo ich im Zephir schwebe,
Ist dir's, als ob der Nordwind schnaubt.
Ach ja, du Armer, ständest du nur nicht
Dort so im Freien, sondern mehr im Schutz
Der Blätter, die nach allen Seiten
Sich dicht um meine Zweige breiten,
So bötest du dem Sturm wohl Trutz.
Jedoch es läßt sich nicht bestreiten,
Daß euer schwächliches Geschlecht
Stets dort zu Hause, wo die Winde jagen,
Und darum muß ich leider sagen,
Natur behandelt euch gar ungerecht.«

»Aus gutem Herzen,« sagte drauf das Rohr,
»Entspringt dein Mitgefühl; indes bevor
Du urteilst, mußt du auch bedenken,
Daß mich die Winde wenig kränken.
Ich beuge mich und breche nicht; bis jetzt
Hast du dem Sturm dich tapfer widersetzt
Und krümmtest nicht vor ihm den Rücken,
Doch warte ab, ob bis zuletzt
Steifnackigkeit und Trotz dir glücken.«

Kaum war's gesagt, da kam in tollem Flug
Der schlimmste Sohn dahergebraust,
Den je der Nord in seinen Lenden trug.
Der Baum steht gut, das Schilfrohr schwankt.
Der Wind verdoppelt seine Kraft und zaust
Und rüttelt an der Eiche, bis sie wankt
Und stürzt. – Da lag sie, deren Haupt den Himmel fühlte,
Doch deren Fuß im Reich des Todes wühlte.


Jean de Lafontaine

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