Freitag, 30. September 2011

Das Testament des Wolfs


Der Wolf kam aufs Krankenbette, und Doctor Pommer verkündigte ihm, daß keine Hoffnung zu seiner Genesung sey. Wenn es denn, sprach Meister Wolf, nicht anders ist, so lasse man mir meine Kinder kommen, mich mit ihnen zu letzen. Sie kamen und umstellten das Lager ihres sterbenden Vaters. Ihr sehet, fieng er an, daß es mit mir zu Ende gehet; ich habe in meinen Lebzeiten nicht allezeit so, wie ich gewünscht, Recht und Gerechtigkeit verwaltet; die Zeiten waren schwer; es mußte sich jeder zu helfen suchen, so gut er konnte: Noch tröstet mich, daß mir der Adler und die Nachtigall nichts unrechtes nachsagen können; mit dem Elephanten und Löwen habe ich auch jederzeit in ertraulicher Freundschaft gelebt; nur die Schafe, Hunde, Hasen und Gänse haben’s zuweilen an mich gebracht, und in der ersten Hitze weiß man sich nicht immer zu mäßigen. Ich rathe euch aber, meine lieben Kinder, mit ihnen fürderhin in Ruhe und Eintracht zu leben; den Schaden, den ich ihnen gethan habe, bey bessern Zeiten zu ersetzen, und euch im Reiche der Thiere des Namens frommer Wölfe würdig zu machen; welches, wie Styx weiß, Lebenslang mein ernstlicher Vorsatz gewesen ist. Ist nun solches euer alle redlicher Wille, so lege jeder zu Bezeugung seiner Aufrichtigkeit die Klaue auf meinen Leib. Ach Vater, fieng Wolfette an, alles dieses wollten wir dir gerne versprechen, wenn wir nur keine Wölfe wären.

Auserlesene Fabeln von
Friedrich Carl, Freyherrn von Moser
ehemaligem Kaiserlichen Reichs-Hofrathe
und nachmaligem Regierungs-Präsidenten zu Darmstadt
Leipzig 1762

Keine Kommentare: