Freitag, 30. September 2011

Das Testament des Wolfs


Der Wolf kam aufs Krankenbette, und Doctor Pommer verkündigte ihm, daß keine Hoffnung zu seiner Genesung sey. Wenn es denn, sprach Meister Wolf, nicht anders ist, so lasse man mir meine Kinder kommen, mich mit ihnen zu letzen. Sie kamen und umstellten das Lager ihres sterbenden Vaters. Ihr sehet, fieng er an, daß es mit mir zu Ende gehet; ich habe in meinen Lebzeiten nicht allezeit so, wie ich gewünscht, Recht und Gerechtigkeit verwaltet; die Zeiten waren schwer; es mußte sich jeder zu helfen suchen, so gut er konnte: Noch tröstet mich, daß mir der Adler und die Nachtigall nichts unrechtes nachsagen können; mit dem Elephanten und Löwen habe ich auch jederzeit in ertraulicher Freundschaft gelebt; nur die Schafe, Hunde, Hasen und Gänse haben’s zuweilen an mich gebracht, und in der ersten Hitze weiß man sich nicht immer zu mäßigen. Ich rathe euch aber, meine lieben Kinder, mit ihnen fürderhin in Ruhe und Eintracht zu leben; den Schaden, den ich ihnen gethan habe, bey bessern Zeiten zu ersetzen, und euch im Reiche der Thiere des Namens frommer Wölfe würdig zu machen; welches, wie Styx weiß, Lebenslang mein ernstlicher Vorsatz gewesen ist. Ist nun solches euer alle redlicher Wille, so lege jeder zu Bezeugung seiner Aufrichtigkeit die Klaue auf meinen Leib. Ach Vater, fieng Wolfette an, alles dieses wollten wir dir gerne versprechen, wenn wir nur keine Wölfe wären.

Auserlesene Fabeln von
Friedrich Carl, Freyherrn von Moser
ehemaligem Kaiserlichen Reichs-Hofrathe
und nachmaligem Regierungs-Präsidenten zu Darmstadt
Leipzig 1762

Mittwoch, 28. September 2011

Die Raupe und der Regenwurm


Die Raupe.

wie schön ist doch die Welt für mich gebaute!
So weit mein scharfes Auge schauet,
Bewundert es, geschaffen mir zum Glück’,
Der großen Götter Meisterstück.
Für mich macht dieses warme Wetter
Die sonne, die so hell vom Himmel auf mich scheint;
Denn Kälte, weiß sie, ist mein Feind.
Für mich trägt dieser Baum so weiche, süße Blätter;
Denn wer genießt sie sonst, als ich?
Auch Blumen zeugte die Natur für mich.
Denn wenn ich einst verwandelt werde
Und mich vergöttert von der Erde
Erhebe, trink’ ich ihren Nektarsaft.
Ja, weil die dunkle Nacht mir kein Vergnügen schafft,
So geht die Sonne nie zur Ruh’,
sie schicke mir denn erst die glänzende Laterne,
Den Mond, und tausend blanke Sterne,
Wenn niemand wacht, als ich, zu meinem Dienste zu.
Sprich, Regenwürmchen, sind wir Raupen nicht beglückt?

Der Regenwurm.

Und Regenwürmer sind wol nichts, erhabne Made,
Als Ungeziefer? nicht? Es ist um dich doch Schade!
Du hättest dich zum Menschen gut geschickt.

Johann Gottlieb Willamov
(1736 - 1777)
aus: Dialogische Fabeln
Berlin, 1791

Samstag, 24. September 2011

fabuliren

fabuliren, verb. reg. neutr. mit dem Hülfswerke haben, in der niedrigen Sprechart, fabeln, Fabeln, Mährchen erzählen, aus dem Latein. fabulari.

Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart
mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten besonders aber der Oberdeutschen
von Johann Christoph Adelung
Zweiter Theil, von F - L.

Donnerstag, 22. September 2011

Begriff der Erdichtung der Beschreibung der Fabel

Dahero habe ich es vor gut befunden, den Begriff der Erdichtung der Beschreibung der Fabel beyzufügen, damit man sie von der Begebenheit hinlänglich unterscheiden könne. Nun weiß ich zwar wohl, daß einige die Geschichte und Fabel also unterscheiden, daß sie sagen, die Geschichte erzähle die Sache, wie sie sich zugetragen, und sorge weder für das Wahscheinliche, noch für die Anwendung; die Fabel aber sähe bey ihrer Erzählung auf das Wahrscheinliche, und suche aus vielerley Begebenheit das heraus was dem Glaubwürdigen am nähesten kommt, und sich am bequemsten auf eine Lebensregel anwenden läßt. Allein, dieses trifft man nicht bey allen Fabeln an. Denn es kann ein Vorfall ohne Zuthun des Dichters wunderbar, wahrscheinlich, und zum unterrichte geschickt seyn; er wird aber, wenn er gleich mit unter die Fabeln gesetzt wird, und eben den Nutzen, den die Fabel hat, deswegen dennoch nicht zur Fabel werden. Denn er hat seine Wirkung von sich selbst, da hingegen die eigentliche Fabel ihr Daseyn und ihren Nachdruck von der Erfindung des Poeten empfängt. Aber, wenn der Vorfall zum Theil verändert wird; wenn er durch etwas vermehrte wird; wenn kleine Umstände, die entweder gar nicht, oder nicht in dem Zusammenhange da waren, so hinzugesetzt und am Ende mit einander so verbunden werden, daß sie diesen Vorfall welcher den Leser zugleich zu unterhalten und zu lehren geschickt war, ganz erzehlen: so halte ich dafür, daß man dergleichen Erzehlung mit Recht eine Fabel nenne. Eben dieses gilt auch bey größern Fabeln, bey dem Trauerspiele und dem Heldengedichte, als in welchen wahre Begebenheit mit erdichteten verknüpft sind, und in welchen der Dichter solche Zufälle beybringt, von denen zwar sowohl die schriftliche als mündliche Geschichte nichts weiß, die aber doch die Absicht der Fabel erfordert. Herr Breitinger nennt nebst den la Motte die Fabel mit Recht eine ins kurze gezogene Epope; da nun aber niemand die Epope denkt, ohne zugleich sich an die Erdichtung zu erinnern; so folgt, daß, wenn die Vergleichung passend seyn soll, die Erdichtung auch bey dem Begriffe von einer kleinen Fabel nicht fehlen könne.

Christian Fürchtegott Gellert
Von denen Fabeln und deren Verfassern

Mittwoch, 21. September 2011

Die Stufe


Spricht die Stufe:

„Du Tor! du Tor! Weil du mich überschritten hast, verachtest du mich? Ständest du, wo du stehst, wenn ich nicht gewesen wäre?“

Marie von Ebner-Eschenbach

Sonntag, 18. September 2011

Fabelwerk

Der Fabelschmid, des –s, plur. die –e, der Urheber einer Fabel oder erdichteten Erzählung, im verächtlichen Verstande.

Grammatisch-kritisches Wörterbuch
der Hochdeutschen Mundart
mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten
besonders aber der Oberdeutschen
von Johann Christoph Adelung
Zweiter Theil, von F - L.
Wien, 1808

Freitag, 16. September 2011

Der Reiher und die Schlange


Die Nachkommenschaft eines Reihers fiel jedesmal einer Schlange zum Opfer, und darüber grämte sich der Reiher sehr. Auf Anraten eines Wassertioeres streute der Reihe vor der Höhle eines Ichneumons *) Stücke von Fischfleisch bis zum Loch wo die Schlange wohnte. Beim Verlassen seiner Wohnung folgte der Ichneumon diesen Fleischstücken und kam so vor das Loch der Schlange, kroch hinein und fraß die Schlange samt ihrer Brut auf.

So führt man eine gute Tat mit List aus

Indische Erzählungen
Aus dem Sanskrit zum erstenmal ins Deutsche übertragen
von Dr. Hans Schacht
Privatdozent an der Universität Lausanne
Lausanne und Leipzig, 1918

*) = Mungo

Donnerstag, 15. September 2011

Drachenberg

Bildquelle: Wikipedia
Urheber: Philipendula

Drachenberge gibt es in Deutschland nicht wenige; ihre Namen bezeugen den festgewurzelten Volksglauben an Drachen, die, mit dem an Lindwürme verschmolzen und fast eins, überall auf Ungeheuer der Vorzeit hindeuten, die nicht mehr vorhanden sind. Wo Sagen von Lindwürmer haften, ist insgemein die Sankt Georg-Legende mit ihnen verwachsen. Die vielen drachenhaften Gebilde an den Kirchen des romanischen Baustils gaben der Sage stets neue Nahrung. Bei Wurmlingen und seiner berühmten Wallfahrtkapelle und in der Höhle am Fuße der Wandelburg hauste und wandelte vorzugsweise ein greulicher Wurm, der ja auch Wurmlingen den Namen gab. Viele sagen, es sei gar ein Pärchen, Männlein und Weiblein, gewesen, auf daß die gute Art nicht aussterbe und die irrenden Ritter doch etwas zu tun fänden. Die Sage vom Lindwurm auf Frankenstein wie die von Limburg (Lindburg) an der Lahn wiederholt sich getreu mit der alten Limburg auf dem Lim- oder Lindberge im Neidlinger Tale im Schwabenlande, nur daß sie geradezu den heiligen Georg als Drachentöter nennt, während andere verwandte Sagen dessen mythische Persönlichkeit mehr umhüllen. Nah dem Filstale liegt das Dorf Drackenstein mit einem Drachenloch und einer Totenhöhle, wie bei Meiningen ein Drachenberg mit einem Drachen- und einem Bärengraben. Der Drache im Drachenloch bei Drackenstein soll noch immer geisten. Einst gelang ihm der Raub einer Kaiserstochter, er hielt sie gefangen fünf Jahre lang und gedachte ihr die Ehre zu, sie zu seiner Gemahlin zu erheben, aber er gefiel ihr nicht, obschon er ihr drei herrliche Kleider schenkte, darauf auf einem Sterne gestickt waren, auf dem zweiten der Mond und auf dem dritten die Sonne. Sie ging mit einem Schneider, der ihr im Walde begegnet war, durch und nahm die Kleider mit, und später heiratete sie den Schneider, und der Drache hatte das Nachsehen. Auch bei Eningen liegt ein Drackenberg; daran sollen zwei hohe Nußbäume gestanden haben, mit den Kronen ineinander verschlungen. Diese Kronen bildeten das Drachenbette, und der Drache sei gewesen wie eine ungeheuer große Klapperschlange. Ein Jäger, welcher allerlei Jagdstücklein verstand, auch wohl selbst ein Hexenmeister war, schoß mit einer gewissen Kugel die Schlange in den Kopf, da tat sie einen Schneller noch den halben Drackenberg hinauf und starb. Im Ammentale hauste ein greulicher Lindwurm, den erlegte nur dadurch ein Ritter, daß er sich über und über mit Spiegeln behing. Da der Wurm in diesen sich erblickte, meinte er, er bekomme Kameradschaft, und nahte sich nicht feindlich. Gleich darauf stieß ihm der Ritter seinen Speer in das Herz.
Ludwig Bechstein
Deutsches Sagenbuch
Meersburg und Leipzig 1930

Dienstag, 13. September 2011

Drache

Bildquelle: Wikipedia

Drache, 1) Sternbild am nördlichen Himmel; die Fabel sagt, Juno haben den drachen, welcher die goldenen Äpfel im Schlafgemache der Hesperiden bewacht, und welchen Hercules tödtete, an den Himmel versetzt. – 2) Der fabelhafte Drache. Von diesem Ungeheuer geht die Fabel fast so weit hinauf, als die Geschichte reicht. Man schildert seine Gestalt so schrecklich als möglich, und gibt ihm zum Wohnplatze beinahe alle bekannte Länder, besonders das damals noch unbekannte Indien und Afrika. Seine Größe gab man nicht leicht unter 20, oft aber auf 70 Ellen an. Von letzterer Art war der Drache, der nach dem Ulian zu Alexanders des Eroberers Zeiten in Indien lebte und göttlich verehrt wurde. Füße hatte er nach diesen Beschreibungen nicht, sondern wie schlangen bewegte er sich durch Windungen des Körpers fort. Der ganze Körper war mit Schuppen bedeckt, und nach Vielen der hals mit einer Mähne geziert. Übrigens widersprechen sich diese Erzählungen fast alle, und nur darin stimmen sie überein, daß der Drache vortreffliche Sinnenwerkzeuge, besonders ein scharfes Gesicht habe. Ihm wird eine solche Stärke beigelegt, daß es ihm eine Kleinigkeit war, einen Elefanten zu erwürgen. Seine Nahrung bestand in Blut und Fleisch von allerlei Thieren auch fraß er verschiedene Früchte. Das Sonderbarste ist, daß dessenungeachtet dieses Thier gefangen und zahm gemacht werden konnte, wovon die alten Schriftsteller mancherlei zu erzählen wissen. Diesen Fabeln scheint aber dennoch ein wirkliches thier zum Grund zu liegen, und wahrscheinlich ist dieses kein anderes als die große Abgottschlange (Boaconstrictor, s.d.). Der fabelhafte Drache des Mittelalters hat 4 Löwenfüße, einen langen, dicken Schlangenschwanz und einen ungeheuern Rachen, aus welchem Feuerflammen strömten. In den Ritterzeiten spielte dieser Drache eine Hauptrolle; er gehörte zu den Ungeheuern, welche die bepanzerten Romanhelden zu besiegen hatten. Diese Sagen wurden wahrscheinlich durch mangelhafte Nachrichten vom Nilkrokodill, welche durch die Kreuzzüge nach Europa kamen, und übertriebene Beschreibungen unserer größten inländischen Schlangen veranlaßt …


Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände
(Conversations-Lexikon)
Siebente Originalauflage
(Zweiter durchgesehener Abdruck)
Dritter Band
D bis E.
Leipzig: F.A. Brockhaus, 1830

Sonntag, 11. September 2011

Apis und der Drache zu Babel

Bildquelle: Wikipedia
(Pergamon-Museum, Berlin)

Gott Apis und der Drachengott zu Babel
Beklagten ihr Geschick, das in der Unterwelt
Mit allen Bestien der Götterfabel
Zum großen Troß der Schatten sie gesellt,

„Mein Reich war leider kurz; es warf,“ so sprach der Drache,
„Mir täglich einen Zoll von fetten Opfern ab,
Als ein verwünschter Jud, ein Atheist, aus Rache
In Butterklösen mir vergab.“

„Mit mir,“ versetzt der Stier, „trotz aller Weihrauchsnebel,
Die mich umgaben, trieb ein Wütherich,
Cambyses, gleichs Spiel; sein mordgewohnter Säbel
Entgötterte mit Einem Hiebe mich.“

„Wir müssen hart für unsern Schwindel büßen,“
Sprach jener. „Freund, wo dachten wir nur hin,
Daß wir zu Göttern uns erheben ließen?
Der Einfall war doch wohl zu kühn.“


„Herr Bruder,“ sprach der Stier zum Drachen,
„Die Kühnheit wird mich nie gereun.
Wenn Priester ungescheut aus Menschen Ochsen machen,
So dürfen Ochsen Götter seyn.“

Gottlieb Konrad Pfeffel

Elidar - Magierin der Drachen



Die deutsche Fantasyautorin Susanne Gerdom hat sich in ihrem neuesten Roman der Drachen angenommen. Die junge Elidar, noch in der magischen Ausbildung, muss sich auf die Suche nach ihrer wahren Herkunft machten - und die ist mit dem Schicksal der Drachen verbunden.

Eine Buchbesprechung zu einem weiteren neuen Roman Susanne Gerdom's findet sich hier.

Samstag, 10. September 2011

Der Drache mit mehreren Köpfen und der Drache mit mehreren Schwänzen


Einst zog, wie ein Histörchen uns berichtet
(Und ist's nicht wahr, so ist's doch gut erdichtet),
Des Sultans Abgesandter, der beim Kaiser war,
Des Sultans Macht der kaiserlichen vor.
Die Worte trafen eines Deutschen Ohr,
Der fand des Türken Meinung anfechtbar.
Er sagte: »Unser Herrscher hat Vasallen,
Die reich und mächtig sind wie er;
Jeder von ihnen könnte nach Gefallen
Besolden ein gewaltig Heer.«
Des Sultans Untertan, ein kluger Mann,
Entgegnete: »Gewiß, wohl hörte ich,
Daß jeder Kurfürst Truppen rüsten kann.
An einen Traum gemahnte dieses mich.
Ich war an sicherm Ort, als jenseits hoher Hecken
Die hundert Köpfe einer Hydra drohten.
Mich überfiel ein kalter Schrecken,
Ich zählte mich schon zu den Toten,
Doch kam ich mit dem Schrecken fort;
Der Drache konnte keine Öffnung finden,
Um durch die hohe Hecke dort
Die vielen Köpfe glatt hindurchzuwinden.
Noch sann ich nach dem Abenteuer,
Da zeigte sich am selben Ort
Ein andres Ungeheuer;
Das hatte nur ein einzig Haupt,
Doch mehr als einen Schwanz am Leibe.
Entsetzlich kam es angeschnaubt –
Unmöglich, daß ich's Euch beschreibe.
Der Kopf schlüpft mühlos durch mit Brust und Bauch,
Und hinterher die Schwänze alle auch;
Nichts hindert sie, leicht ist's vollbracht,
Da eins dem andern Platz gemacht.
Und seht – dies ist der Sache Kern –
So steht's mit Eurem, so mit unserm Herrn.«

Jean de Lafontaine
aus: Fabeln. Berlin 1923

Mittwoch, 7. September 2011

Schmetterling


O Schmetterling sprich,
was fliehest du mich?
warum doch so eilig, 
jetzt fern und dann nah!

Jetzt fern und dann nah,
jetzt hier und dann da. -- 
ich will dich nicht haschen
ich tu dir kein Leid.

Ich tu dir kein Leid:
o bleib allezeit! 
und wär ich ein Blümchen,
so spräch ich zu dir.

So spräch ich zu dir: 
komm, komm doch zu mir!
ich schenk dir mein Herzchen,
wie gut bin ich dir!

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben
(1798-1874)
Vertonung: Robert A. Schumann
(1810-1856), op. 79 no. 2.


Dienstag, 6. September 2011

Die Frau ist ein Werwolf

Bildquelle: Wikipedia

In Caseburg auf Usedom waren einmal ein Mann und seine Frau beim Heuen auf einer Wiese beschäftigt. Da sagte die Frau nach einiger Zeit, sie habe gar keine Ruhe mehr, sie könne nicht mehr bleiben, und ging fort. Vorher aber der Mann ihr noch versprechen, daß, wenn etwa ein wildes Tier käme, er ihm seinen Hut hinwerfen bevor er fliehen wolle. Daß wilde Tier täte ihm dann keinen Schaden. Das versprach der Mann. Nur eine kleine Weile war sie fort, da kam durch die Swine *) ein Wolf geschwommen. Der ging grade auf die Heuer los; da warf ihm der Mann seinen Hut hin, den das Tier sogleich in kurz und kleine Stücke zerriß. Aber unterdessen hatte sich ein Knecht mit einer Forke herangeschlichen und erstach den Wolf von hinten. Im selben Augenblick aber verwandelte sich das Tier, und alle erstaunten nicht wenig, als sie sahen, daß es des Bauers Frau war, die der Knecht getötet hatte.
Sage aus Mecklenburg-Vorpommern

*) Swine ist der Meeresarm in der Ostsee zwischen der Insel Usedom und dem Stettiner Haff

Freitag, 2. September 2011

Parabel

Georg Herweg
(1817-1875)
Bildquelle: Wikipedia

Erlaubt mir, daß ich 'mal berichte
Euch eine alberne Geschichte:
Sie kommt mir eben in den Sinn,
Geduld ist deutsch, drum nehmt sie hin.

War eine brave, brave Frau,
Die nahm's im Dienste wohl genau,
Und macht', so brav sie auch gewesen,
Doch niemals vieles Federlesen.

Die Frau hatt' einen muntern Hahn,
Der kräht' ihr stets den Morgen an,
Und war nach seiner Hahn-Natur
Für sie die allerbeste Uhr.

Sobald den Tag er angesagt,
Da weckt' die Frau die faule Magd,
Was unsre Magd gar schwer verdroß,
Daß sie im Grimme einst beschloß,

Dem Vogel zu stutzen seine Schwingen
Und, meld' ich's kurz, ihn umzubringen.
Es war gedacht, es war getan,
Die Götter bekamen einen Hahn.

Was aber hat die Magd gewonnen?
Die sonst geweckt ward mit der Sonnen,
Ward nun geweckt um Mitternacht,
Nachdem den Hahn sie umgebracht.

Ach! sprach die Magd, die schwer Betörte,
Wenn ich den Hahn doch krähen hörte!
Sein Krähen hat so schön geklungen,
Als hätt' eine Nachtigall gesungen.

»Und nun der Witz? wir bitten dich!«
Ihr kennt die Frau so gut wie ich;
Sie ist die schönste weit und breit,
Ihr Anblick die volle Seligkeit.

Ihr kennt wohl auch des Nachbars Hahn,
Dem ihr soviel zuleid getan;
Und wenn ihr mich nach dem Dritten fragt:
»Du, deutsches Volk, du bist die Magd!«

Doch wenn ihr den Hahn auch mordet, ihr Sklaven,
So denkt darum nicht länger zu schlafen,
Erst weckt' euch die Frau nach dem Hahnenschrei,
Nun ist's mit dem Schlummer auf ewig vorbei.

Die Freiheit kommt wie ein Dieb in der Nacht
Und ruft euch zu: »Erwacht! erwacht!«

Georg Herwegh
aus: Herweghs Werke in drei Teilen.
Band 1, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart, 1909

Donnerstag, 1. September 2011

Fabelschatz & Fabelspiel

Fabelschatz

Kern der sinnvollsten, lehrreichsten und ansprechendsten Fabeln aller Zeiten, Völker und Sprachen.

Fabelspiel

das, für die Jugend, oder die bewegl. Lafontaine’schen Fabeln (französ. u. deutsch) mit e. gemalten Landschaft u. vielen ausgeschnittenen ill. Figuren.

aus:
Vollständiges Bücher-Lexicon
enthaltend
alle von 1750 bis zu Ende des Jahres 1832
in Deutschland und in den angrenzenden Ländern gedruckten Bücher
Zweiter Theil