Montag, 1. August 2011

Die Maisen


Einer der Mitsklaven Aesop's hatte den Kindern seines Herrn ein gefundenes ganzes Nest mit jungen Maisen nach Haus gebracht. Die Vögelchen waren noch beinahe federlos, und die Kinder hatten ihr Vergnügen daran, ihren Zöglingen das Futter in die offenen Schnäbel zu stecken.
Endlich flogen sie aus dem Nests, und frassen selbst, als die Kinder einst in die Kammer kamen, und mit Verwunderung sahen, wie sich die Maisen unter einander über dem Futter herum zausten, und sich mit wildem Geschrei nach den Augen pickten.
»Seht doch die garstigen Vögel«, rief eines von den Kindern dem Aesop zu, »was sie für einen Krieg untereinander erhoben haben! Sollte man unter der Brut des nämlichen Nestes, eines Vaters und einer Mutter, solche Verbitterung glauben?«
»Sind in der Teilung begriffene Geschwister«, sprach Aesop. »Aber du hast recht. Es sind garstige Vögel. Musst sie fliegen lassen.«

Johann Friedrich August Kazner
(1732 - 1798)
aus: Fabeln, Epigramme und Erzählungen (1786)

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