Dienstag, 30. November 2010

Mit der Pest gewonnen

»Jemanden die Pest an den Hals wünschen« ist ein unguter Fluch aus vergangener Zeit. Das heute mit der Pest auch gewonnen werden kann ist derzeit im Bücher-Wiki zu sehen. Mein Beitrag zur »Pest in der Literatur« kam auf den zweiten Platz.

Horst-Dieter Radke

Politische Fabeln zum Revolutionsjahr 1848 (3)

In diesem Momente entstanden jene Fabeln, welche der Leser hier vor Augen hat. Erschrocken, empört über die furchtbare Enttäuschung, erfüllt von Besorgniß um sein geliebtes Oesterreich, nicht bloß todesmuthig, sondern lebensüberdrüßig nach dem entheiligten Idole, das er von der Freiheit eines edlen und großen Volkes im Busen getragen und in den geheimsten Winkeln seines Herzens gehegt, stürzte sich der Verfasser gleichsam in die Speichen des Rades der Revolution - allein, verlassen von allen, verhöhnt und selbst mit dem Tode bedroht - unbekümmert, ob es ihn zermalme, nicht erst überlegend oder berechnend, ob ein so kleiner und geringer Widerstand Erfolg haben könne. Er dachte nur an seine Pflicht! Die 76. und 81. Fabel drückt seine Gedanken aus.
LXXVI.
Ich rechnete nicht.

Ein Tempelritter hatte drei Stücke Metall vor sich liegen. »Wählet,« sagte er, »was soll aus euch werden?«
»Ich,« sprach das eine trotzig, »bin spröd und spießig - Speer möcht‘ ich sein im Turnier und Streit.«
»Ich,« bath demüthig das andere, »bin hart und fest; Dir, o Herr, möcht‘ ich dienen als Schild.«
»Und ich,« wedelte das dritte Stück, »bin geschmeidig - lass‘ mich zur Zier deines Helmes gedeihen!«
Der Tempelritter ließ aus dem ersten Stück einen Speer, aus dem zweiten einen Schild, aus dem dritten die stolze Zier seines Helmes schmieden.
So kam der Speer beim nächsten Turniere in die Hand eines Gegners, während der Schild im Kampfe die Brust des guten Herrn also deckte, daß der wohlgezielte Spieß zersplitterte, aber auch Er eine Schramme bekam. Da rief die schimmernde Zier vom Helm herunter: »Thörichter Schild, nun magst du in der finstern Eisenkammer vom Rost zerfressen werden? Warum hattest du nicht Geschmeidigkeit zur Tugend gewählt? Sieh‘, wie allein ich hoch oben glänz‘ und eine Zukunft errang!«
Ihm aber der Schild: »Das Herz meines Herrn schlägt noch, und jener Speer, dessen Stoß ihm gegolten, liegt in Splittern vor uns. Andres hab‘ ich niemals verlangt. Wer Schild sein wollte, rechnete nicht.«
*
Sprecht nicht von »Mitte halten,« von »Geschmeidigkeit,« ihr Klugen! Daß die äußerste Rechte unmöglich macht, weiß der ehrliche Mann. Aber antworten kann er, wie jener Schild: »Ich rechnete nicht.«

Politische Fabeln von J.S. Ebersberg, 1849

Montag, 29. November 2010

Politische Fabeln zum Revolutionsjahr 1848 (2)

Wie nach den Märztagen in Folge der Unthätigkeit und Schwäche einer ganz rathlosen Regierung, die nie handelte, sondern sich nur durch die Ereignisse fortstoßen ließ, durch die Wühlereien fremder Emissäre und meistentheils jüdischer Schrifsteller, *) durch die Uebergriffe und Anmaßung einer künstlich erregten und mißbrauchten Jugend die Lage des Vaterlandes immer trauriger und hoffnungsloser ward: weiß wohl Jeder, welcher diese Zeit miterlebt hat, wo das Rad der Geschichte so rasch rollte, daß, was vor einer Stunde Weltereigniß war, in der nächsten schon wieder von Neuem, Unerwartetem, Ungeahntem überholt und fast vergessen wurde. Alles stand auf dem Spiele. Der Kaiser war aus Wien entflohen, wo man mit Bajonetten, Krampe und Schaufeln Zugeständnisse abgetrotzt und die am 15. März und 25. April von Seiner Herzensgüte gewährte Constitution vernichtet hatte; die Mißachtung der Gesetze, die Verfolgung der Priester, womit selbst der ehrwürdige und greise Erzbischof Wiens nicht verschont blieb; die Störungen der Abendruhe durch Katzenmusiken, die Verletzung des häuslichen Asyls und Gewaltthätigkeiten aller Art hatten die Haupt- und Residenzstadt mit Bangigkeit, ja mit entsetzen erfüllt. Der furchtbarste Mißbrauch der Preßfreiheit hatte durch Lüge, Verläumdung und unablässiges erhitzen der Leidenschaften die Gutmüthigkeit des Volkes und sein gesundes Urtheil umgewandelt - Land, Stadt und Menschen waren nicht mehr zu erkennen, und allgemeines Verderbniß stand vor den Augen der Bessergesinnten, deren Zahl freilich nicht gering, deren Muth aber eben so klein und thatenlos war, als die Schlechten und Aufrührerischen, welche in dem allgemeinen Umsturz zu gewinnen hofften, sich rührig und gewandt bewiesen.
VI.
Die Lichtmacher

Ein armer Mann, der unschuldig viele Jahre in einem dunkeln Kerker gesessen, wurde freigesprochen. Aber da zeigte sich, daß seine Angst durch die immerwährende Dunkelheit des Gefängnisses blöde geworden und er beinah erblindet sei. Der Arzt erklärte, daß frei eLuft und Licht seine Augen nur heilen könnten. Anfänglich zuckte der Patient schmerzlich, als das helle Sonnenlicht auf sein leidendes Antlitz fiel, aber von Tag zu Tag besserte sich das Uebel. Da meinte ein thörichter Mensch, wenn Licht solche Besserung erzweckte, müsse vermehrtes künstliches Licht die schnellste Heilung bewirken. Er stellte daher den Blödsichtigen an das Fenster, hält ihm gegenüber einen Spiegel, und wirft mit Einer Wendung in der Schnelligkeit des Blitzes den schneidenden Abglanz des Sonnenstrahls auf das kranke Auge. Aber mit einem Schrei des Entsetzens stürzt der Getroffene zu Boden, und mit seinen Augen stand’s schlimmer als jemals.
*
Einen solchen Spiegellichtmacher erkenne ich in dem radikalen Schriftsteller. Licht ist Wohlthat, Licht ist Segen für jedes äußere, wie für das Seelenauge. Aber wer lange im Finstern getappt, sollte von verständigen Führer **) erst an die freie Tageshelle mit Sorgfalt gewöhnt werden, um richtig zu sehen, um sich der Wunder der Schöpfung in ihrer Klarheit und Würde zu freuen. Aber leidige Spiegelfechterei vor seinen Augen treiben, heißt sein Gesicht trüben für immer; und wer das reine Seelenauge tödtet, übt ein schrecklicheres Verbrechen, als jener teuflische Bettler, der geraubte Kinder aus Habgier mit glühendem Drahte blendet!

J.S.Ebersberg: Politische Fabeln … (1849)

*) ein Beispiel dafür, wie sehr der Antisemitismus im 19. Jahrhundert alle gesellschaftlichen Schichten durchdrungen hatte.
**) Kaum hundert Jahre später entpuppt sich ein Führer als der große Blindmacher überhaupt.

Samstag, 27. November 2010

Politische Fabeln zum Revolutionsjahr 1848


Bild des Autors aus dem Buch

Vorrede

Die Fabeln, wie sie hier dem Publikum vorgelegt werden, sind ein Denkmal der wichtigsten Tage, welche die Oesterreichische Monarchie erlebt. Sie entstanden nach denMärztagen des ewig denkwürdigen Jahres 1848, in einer trüben und gesetzlosen Zeit.

Mit pochendem Herzen, mit unbeschreiblicher Freude und die Seele voll froher Hoffnungen hat der Fabeldichter die Ereignisse des 13. und die Gabe des 15. März 1848 begrüßt. Wenn Jemand für wahre Freiheit empfänglich war, so war Er’s; wenn Jemand den wahnwitzigen und grausamen Druck des Geistes, wie ihn Graf Sedlnitzky und seine Werkzeuge über Oesterreich gebracht und bis zur Unerträglichkeit gesteigert hatten, gehaßt und verwünscht hat: so war Er’s; wenn Jemand die Mißbräuche des alten und verkrusteten Systems geändert und geheilt, gewisse Privilegien vernichtet, die Menschenwürde überall anerkannt, und Bruderliebe, unter Nationen wie von Einzelnen, geübt wissen wollte: so war Er’s. Aber entsetzlicher wurden noch nie die Erwartungen und Hoffnungen getäuscht, welche der Freund wahrer Freiheit, der seinem Vaterland und Kaiser treue Sohne Oesterreichs mit klopfendem Pulse gehegt!



I.
Seid gewarnt!

Am Ufer der silberglänzenden Donau lag ein Schiff angekettet. Ein günstiges Lüftchen wehte, der helle blaue Himmel sammt seiner leuchtenden Sonne spiegelte sich schön in den Wogen, und Welle um Welle schlüfte lustig dahin und lockte murmelnd das Schiff, zu folgen in freier Fahrt - aber es war ja gefesselt! Da murrten die Leute auf dem Fahrzeug, die lange genug auf Einer Stelle gestanden, und die Muthigsten rissen im edlen Grimm die Kette durch und durch. Frei flog das Schiff, von seinem Ruder gelenkt, hin auf dem silbernen Rücken der Flut. Diese Freiheit gefiele Anfangs den Schiffenden, bis Einer auf das Ruder weiset und spricht: »Was nennt Ihr unser Schiff frei! Seht Ihr nicht hier seinen Gebieter und Herrn, der den Lauf vorzeichnet und in die bestimmte Bahn es drängt?« - »Ja, noch viel freier soll unser Fahrzeug sein!« riefen die trunkenen Schiffer und warfen das Ruder stracks über Bord. Aber das war eine böse Freiheit! Sie und ihr Boot rannten dem Strudel zu; an seinen Klippen zerscholl das rathlose Fahrzeug, und das schöne Schiff sank mit Mann und Maus kläglich in die unerforschten Tiefen hinab.

Ich brauch‘ Euch die Moral nicht zu erklären. Ihr habt dem staatlichen Schiffe Oesterreich, in dessen mit doppel- und dreifarbigen Flaggen geschmückten Raaen ein lustiger Wind seine lockenden Freiheitssprüche bläst, die dickgeschmiedete, aber rostdurchfressene Kette zerrissen. Und mit Recht jubelt Ihr, denn frei ist das Schiff. Doch, Freunde, hütet Euch, im trunkenen Taumel, um es freier als frei zu machen, auch das Ruder über die Flanken zu werfen: ich brauch‘ es Euch nicht zu deuten - ein anderer Name heißt es Gesetz!

Politische Fabeln
Erinnerungen an die
stürmischen Tage des Revolutions-Jahres 1848
von J. S. Ebersberg
Wien, 1849
Im Comptoire des „Wiener Buschauers.“
(Dorotheergasse, Nr. 1108.)

Donnerstag, 25. November 2010

Das Licht und die Laterne


Ein Licht, das über die Straße in einer Laterne getragen ward, beschwerte sich: daß diese letztere einen großen Theil seines Glanzes verdunkle.

Das ist wohl möglich; antwortete dieselbe: und gleichwohl bist du mir Dank schuldig; denn ich schüzze dich vor den Anfällen der freien Luft und des Windzuges. Ich allein erhalte dein Dasein gegen mancherlei Gefahren.

Ertrage daher immer geduldig eine kleine Ungemächlichkeit, des weit größern Vortheils willen!

A.G. Meißners
Fabeln in VIII Büchern
Neue, vom Verfasser selbst besorgte Ausgabe
Theil I. 1s bis 4s Buch
Berlin, in der Fröhlich’schen Buchhandlung 1807

Mittwoch, 24. November 2010

Die Ringelblumen


Schöne Blumen, laßt euch pflücken,
Ihr müsst meinen Hals jetzt schmücken,
Eine Kette sollt ihr werden,
Nicht so sitzen in der Erden!
Also sprach die kleine Liese,
Hüpfte durch die ganze Wiese,
Hörte nicht die Bienlein summen,
Sieht nur nach den Ringelblumen,
Macht sich eine hübsche Kette -
Keine Königin, ich wette,
Kann in ihrem Perlenschein
Glücklicher als Lieschen sein.

Wilhelm Corrodi
aus: Fünfzig Fabeln und Bilder aus der Jugendwelt
Zürich, 1876

Samstag, 20. November 2010

ein esel vant eins louwen hût …

I.

Ein esel vant eins louwen hût und zôch si an.
er sprach „mich hât gelucke brâcht ûf dese ban:
mîns herren gunst hân ich mich gar erwegen.
Die kleinen tir gemein und ouch der herre sîn
die leden alle vor im grôze pîn.
dô er des louwen sprunge solde phlegen,
Wie tump dô was sîn eselî!
sîn obermut in grôzem zorne brante.
die ôren ûz der hûte fri
im worden: dâbî in der herre kante.
er gab im einen kûlen slac:
er sprach „du esel woldest mich betrigen!“
er bant im weder ûf den sac:
dô muste er sich in grôzen schanden smigen.
kint, gere valscher lêre nicht nâch eselischer wise.
du salt anzien dîns vater wât,
das ist mîn rât.
nicht trit ûf fremdes lobes zil, sô stêt din êre in prîse.

Heinrich von Müglin
Göttingen, 1847
(auch: Heinrich von Mügeln)

Freitag, 19. November 2010

Endlich bahnt die Fabel den Weg zum Denken

Endlich bahnt die Fabel den Weg zum Denken. Lessing zeigt mehrere Wege, wie man die Fabel, die schon vor uns liegt, eben so nützlich als angenehm studiren kann. 1. Jetzt gebe der Lehrer den Unterricht, sie zu verkürzen; 2. jetzt zu verlängern; 3. jetzt ändere er einzelne Umstände; 4. oder er nehme den wichtigsten heraus, und baue eine neue; 5. man suche manch Mahl eine edlere Moral; man mache die einfache zur zusammengesetzten, oder dichte aus einer Fabel eine Reihe anderer.
Diese Art von Studium ist ungemein erheiternd, und weckt den Geist. Man geht vom allgemeinen zum Besondern, vom Besondern zum Allgemeinen; so muß der Knabe Genie werden, fährt Lessing fort, oder man kann nichts in der Welt werden.

Fabulae Aesopiae
Phädrus in deutschen Reimen
von Xaver Weinzierl
Wien und Triest, 1817
aus der Vorrede

Montag, 15. November 2010

Der Hirsch, der sich über sein Schicksal beklagte

Muß ich denn, sprach ein Hirsch, allein

Ein Raub der Hund’ und Menschen seyn?

Vor stündlichen Gefahren beben?

Und länger noch als Andre leben?
Natur! so rief er jämmerlich,
Natur! o warum schufst du mich?



Ein Hase lief bey ihm vorbey.

„Du kleines Thier lebst sorgenfrey.

Wie leicht, wenn Jager uns entdecken,
Kann solch ein Würmchen sich verstecken!“
Wo kam denn jüngst mein Weibchen hin,

Sprach dieser, wenn ich sicher bin?



Indessen trabt ein großer Bär

Tiefsinnig seinen Holzweg her.
Wär’ ich so stark, rief er von neuen,
Wie sollten sich die Jäger scheuen!

Dich zog das Gluck uns allen vor. –

Ja! sprach der Bär, das weiß mein Ohr.

Ein Rebhuhnflug schoß schwirrend auf.
Was hilft mir, sprach der Hirsch, mein Lauf?
O könnt’ ich als ein Rebhuhn fliegen! 
...
Thor! siehst du nicht den Spürhund liegen?

Rief eines fliehend: flieh, wie wir;

Der Jager zielt nach uns und dir.
 
Ein Schuß geschah: der Hirsch entflieht.
Wenn nichts sich der Gefahr entzieht,

Was will ich denn durch stätes Grämen

Mir vor der Zeit das Lehen nehmen?

So sprach der Hirsch. – Mich selber däucht,
Was alle trifft, erträgt man leicht.

Karl Wilhelm Ramler

Samstag, 13. November 2010

Indras Irrtum auf der BuchBasel 2010


Foto: Fritz Frey

Auf der BuchBasel 2010 ist das Andruckexemplar von Indras Irrtum auf dem Stand des IL-Verlags schon zu sehen und in die Hand zu nehmen. Nächste Woche kommt die erste Auflage der Indischen Novellen aus der Druckerei, und spätestens in der Woche drauf sollte das Buch auch überall im Handel zu haben sein. Vorbestellt werden kann es schon jetzt beim Verlag. Wer es mit Widmung möchte, schickt mir eine Mail.

Horst-Dieter Radke

Freitag, 12. November 2010

Wahrer Ruhm des Reichen



Es sagte Jemand zu einem sehr angesehenen und reichen Manne, man wundere sich in der Stadt, warum er als ein gemeiner Mann lebe, da er doch reich sey. »Ich tue diese,« sprach er, »weil es rühmlich ist, beim Überflusse mäßig und eingezogen zu seyn, und alsdann seinen Lüsten nicht nachzuhängen, wenn man es am leichtesten Thun könnte.«


Vaterländische Unterhaltungen
Ein belehrendes und unterhaltendes Lesebuch zur
Bildung des Verstandes, Veredlung des Herzens,
Beförderung der Vaterlandsliebe und gemeinnütziger Kenntnisse
für die Jugend Österreichs von Leopold Chimani
Vierter Teil ,Wien 1815' Im Verlage bey Anton Doll

Donnerstag, 11. November 2010

Das Pfefferkorn und die Pille


Zur Pille sprach ein Pfefferkorn,
Aus Eifersucht und voller Zorn:
Du magst dich noch so schön verhüllen,
Man schluckt dich doch mit Widerwillen.
Mich nimmt man mit Vergnügen ein,
Und möcht ich auch noch schwärzer seyn;
Man braucht mich der Gesundheit wegen,
ich muß den kranken Magen fegen.

Die Pille sprach: just umgewandt;
Ich bin bey Höfen doch bekannt,
Dich thut der Baur in Finkeljochen,
Du mußt in grober Grütze kochen;
Du wirst vom Höcker nur geehrt,
Mir giebt ein Doctor meinen Wehrt.

Die Wollust gleicht den bittern Pillen,
Die sich in Gold und Silber hüllen;
Der Sünden Anbiß glänzet schön,
Läßt man ihn ins Geblüte gehn,
So bleibt sein Gift im Körper sitzen,
Denn hilft kein Vomitiv noch Schwitzen;
Wird auch der Körper gleich gesund,
So bleibt die Seele doch verwundt.

Neue Fabeln und Erzehlungen in gebundener Schreibart
Hamburg, verlegts Conrad König, 1749

Mittwoch, 10. November 2010

... vornehmlich aber die Personen von ihrer merkwürdigsten Seite zu zeigen


Die Fabel hat, in Absicht der Sachen, die geschehen, vor der Geschichte den Vorzug, daß sie uns durch Erdichtung besonderer Umstände alles lebhafter, ausführlicher und lehrreicher und durch des Dichters Anordnung ordentlicher, und wie es uns am stärksten interessiert, vorstellt; vornehmlich aber wie jedes am bequemsten ist die handelnden Personen von der merkwürdigsten Seite zu zeigen und uns die Stärke und Schwäche ihrer Seelen lebhaft empfinden zu lassen.

Johann Georg Sulzer
Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen,
nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden,
Artikeln abgehandelt von
Zweyter Theil
Neue vermehrte dritte Auflage
Frankfurt und Leipzig, 1798

Dienstag, 9. November 2010

Die Grasmücke und der Kuckuck


E Kukmand aa den lile Fauel

Din nysle Ree, hvori De bitte smaae Ekk ligger, gier a saa gjen lie, te a vil forar Doe et stor Ekk a mie eien. Rug et kon godt ur, a foer den ung Fauel med Flauer aa. Mög, aa Do skal kon see, hvor stor den skal blyv.
Den lile Faul gör et.
De vaer it loeng, saa komm der en ung Fauel ur a e Ekk, men de var en Kukmand. Den slugt oll e Mög som die Gammel komm mæ, aa di anner smaae unger sek snar flet ingen. Da en bleuv störr smeer en dem saagar ur a e Ree, aa die dpe. Tesist slugt en aassaa di Gammel, som hay foret den.

Saadan gaaer et die smaae Fauel, som teier et kukmandsekk i doer Ree.


Die Grasmücke und der Kuckuck

»Was hast Du da für winzig kleine Eier in Deinem so niedlich gebauten Neste! Dieß gefällt mir so sehr, daß ich Dir ein großes Ei von meinen eigenen darin schenken möchte. Brüte es nur ja recht sorgfältig aus, und füttre dann den jungen Vogel treu mit Fliegen und Mücken: so sollst Du Freude beleben an seinem Wachsthum.
Die Grasmücke befolgte die Vorschrift. –
Es schlüpfte bald ein junger Vogel aus dem Ei; aber es war ein Kukkuk. Gierig ergriff er alle Insecten, welche die armen Pflegeältern dem Neste zutrugen, daß für ihre eigenen Jungen fast Nichts übrig blieb. Dann schob er diese gar ganz aus dem Neste, wo sie jämmerlich umkamen. Zuletzt ward er so gierig, daß er selbst die Pflegerin verschlang, welche ihn gutmüthig aufgefüttert hatte.
So geht es den Grasmücken, welche ein Kukkuskei in ihr Nest aufgenommen haben.

aus: Zwölf Fabeln
in den nordschleswigschen Mundarten
mit Uebersetzung in der Schriftsprache
Gesammelt von Dr. Gottlieb
Husum, 1844

Montag, 8. November 2010

Die beiden Weiber

Evelyn de Morgan (1855−1919)
Königin Eleonore von Quitanien mit Rosamund Clifford
Bildquelle: Wikipedia

Erste Fabel

Ein Mann von Mittelalter hatte zwei Mätressen, eine Alte und eine Junge. Beide waren eifersüchtig auf einander, jede wollte am meisten geliebt seyn; beide waren mit seinem Alter unzufrieden. Die Alte, der er zu jung aussah, rupfte ihm daher alle schwarze Haare aus; die Junge, der er zu alt vorkam, ließ kein einziges weißes Härchen stehen. Was geschah? In kurzem war unser Mann ein Kahlkopf.
 
Sehet da zwei entgegengesetzte politische Systeme; und den Ruin der Nation, an der sie versucht werden.
Christian August Fischer
Politische Fabeln
Königsberg 1796

Sonntag, 7. November 2010

Chrysaor

Cesar von Everdingen: Die vier Musen
Bildquelle: Wikipedia

Chrysāor (»Goldschwert«), im griech. Mythus Sohn des Poseidon und der Medusa, sprang mit einem goldenen Schwert in der Hand nebst Pegasos aus dem Rumpf der Medusa, als Perseus dieser das Haupt abschlug. Er zeugte mit der Okeanide Kallirrhoë den dreiköpfigen Riesen Geryones und die Echidna.
Meyers Großes Konversations-Lexikon
Band 4. Leipzig 1906, S. 136

Donnerstag, 4. November 2010

Die weisse Raben


Den Raben gieng es sehr nahe, daß ihnen von den Menschen so übel nachgeredt wurde; sie ersuchten mit grossen Verheissungen den Nachbar Staar, da er mehr mit den Menschen zu thun hätte, ihnen diese üble Meinung zu benehmen, und sie die schöne weisse Raben zu heissen. Das will ich wohl tuhn, sagte Matz, die Menschen werden euch doch wohl an der Stimme und den Federn erkennen.

Friedrich Carl von Moser
Der Hof in Fabeln
Leipzig 1762

Dienstag, 2. November 2010

Die beiden Äpfel


Es hing einmal an einem Zweig,
Rothwangig und an Größe gleich,
Ein feines Erstlings - Apfel - Paar,
Wie kaum in Eden eines war.

Doch eh des Gärtners Hand, geschickt,
Die frischen Zwillingsbrüder pflückt,
Ward einer faul, und bald nachher
Sein Nachbar auch so faul wie er.

Als dieß der kluge Gärtner sah,
sprach er zum Sohne: Siehe da
Mein liebes Kind, und lerne dran:
Nichts steckt so leicht als Faulheit an!

Johann Friedrich Ferdinand Schlez
aus: Fabeln - Viertes Buch

Montag, 1. November 2010

Die Elemente


Vier Brüder laufen Tag und Nacht,
Und ihre Kraft und ihre Macht,
Herrscht über alle Wesen.
Dich ihrer Allmacht zu entziehn,
Mußt du von dieser Erde fliehn,
Sonst kann's dir nicht gelingen.

Der erste schlingt mit Ungestüm,
Was er erwischen kann. Bemühn
Mußt du dich ihn zu zähmen.
Verderben hauchet seine Gluth,
Und grenzenlos ist seine Wuth,
Wenn einmal sie erreget.

Der zweite dämpft des ersten Grimm;
Doch auch vor seinem Zorne nimm
Dich wohl in Acht, und sorge,
Zu rechter Zeit ihm zu entgehn.
Nicht kannst du, Schwacher, widerstehn
Den hocherzürnten Wogen.

Der dritte lärmet viel und schreit,
Als wäre er nicht wohl gescheut,
Und treibt oft viel Spektakel.
Doch ist es nicht so bös' gemeint.
Wenn er auch nicht erzürnet scheint,
Setz' ihm Geduld entgegen.

Der vierte lockt aus seinem Schoos
Dich hold hervor, und zieht dich groß,
Mit treuer Muttersorge.
Er nimmt dich liebend wieder auf,
Wenn, müde von des Lebens Lauf,
An seine Brust du sinkest.
Karoline Stahl
Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder
Nürnberg 1821