Sonntag, 28. Februar 2010

Die beiden Enten und das Eis


Zwei Enten hatten sich auf einem See niedergelassen, auf dem das Eis bereits zu tauen begann. Es gab bereits größere Löcher, in denen sich schwimmen und nach Nahrung suchen ließ. Gegen Abend flog eine der beiden Enten auf und lies sich auf der Eisfläche nieder. »Komm zu mir« lockte sie die Freundin. »Wir wollen die Nacht auf dem sicheren Eis verbringen. »Lieber nicht« rief die andere Ente. »Der Fuchs mag kommen und außerdem schläft es sich auf dem leicht schaukelnden Wasser so gut«. »Der Fuchs ist für das tauende Eis bereits zu schwer« wollte die erste Ente beruhigen, doch die Freundin ließ sich von ihrer Angst nicht abbringen. So kam die Nacht und mit der Nacht kehrte auch der Frost noch einmal zurück. Am nächsten Morgen war die Ente, die im Wasser geblieben war festgefroren. Hilfesuchend schaute sie nach der Freundin aus. Doch die war verschwunden. Eine Spur, die vom Ufer kam und dorthin zurückkehrte zeigte, wo sie geblieben war.

Horst-Dieter Radke

Freitag, 26. Februar 2010

Der kluge Wolf und die neun dummen Wölfe


Zehn Wölfe stehlen nachts aus einer Schafherde zehn Schafe und treiben Sie abseits in den Wald. Als sich die Wölfe, gierig und nach Blut lechzend auf die Schafe werfen wollten, sagte der kluge Wolf: »Haltet ein, wir wollen zuvor gerecht teilen, damit niemand sich später benachteiligt fühlt«. »Gerecht teilen?« fragten die anderen Wölfe. »Wie stellst du dir das vor?«
»Wir teilen so, dass immer zehn dabei herauskommt« sagt der kluge Wolf. »Ihr neun Wölfe seid als erste dran, ihr bekommt dieses Schaf. Neun und Eins sind zehn. Ich bekomme diese neun Schafe. Eins und Neun sind auch zehn. Stimmts?«
»Genau!« riefen die neun Wölfe, vor Freßgier ganz dumm und stürzten sich auf ihr Schaf. Der schlaue Wolf jedoch trieb seine neun Schafe davon.

Sumerische Fabel aus dem
3. Jahrtausend v. Chr. und damit
eine der ältesten Fabeln überhaupt
nacherzählt von: Horst-Dieter Radke

Dienstag, 23. Februar 2010

Die Wette

Es wetteten zwei Leute miteinander unter folgenden Bedingungen. Der eine sagte: »Kein Mann kann spielen wie die Kinder.« Jener, sein Gegner, sagte: »Ich kann es.« Da machten sie eine Wette, und der erste sagte: »Wenn Du spielen kannst wie die Kinder, will ich Dir hundert Thaler geben.« Und er wiederum sagte: »Wenn ich es nicht kann, werde ich Dir hundert Thaler geben.«
Und er mischte sich ins Spiel der Kinder und spielte mit ihnen auf jede Art. Dann aber sah er, wie die Kinder ihre Gewänder ablegten und alle nackt gingen; er konnte jedoch seine Kleider nicht ausziehen, denn er war doch ein erwachsener Mann. Er war überwunden und bezahlte die hundert Thaler.

Carl Velten
Märchen und Erzählungen der Suaheli
Stuttgart/Berlin, 1898

Montag, 22. Februar 2010

Die Katze und die Maus


Eine Katze fand eine Maus, die eben aus dem Wasser gekrochen war. Sobald sie dieselbe sah, wollte sie sie fassen und auffressen. Die Maus hatte jedoch einen schlauen Einfall und sagte: »Warte noch, jetzt habe ich noch zu viel Wasser auf meinem Körper, warte, bis ich trocken bin.« Sie gingen und liessen sich auf einem trockenen, sandigen Boden nieder.
Da wollte sich die Katze schon wieder der Maus nähern, aber diese sprach: »Noch nicht, ich bin noch nass.« Sie scharrte unterdessen ganz vorsichtig hier und da ein wenig; plötzlich verschwand sie und rief der Katze noch zu: »Komm, fasse mich jetzt.« So entkam sie.

Carl Velten
Märchen und Erzählungen der Suaheli
Stuttgart/Berlin, 1898

Sonntag, 21. Februar 2010

Die Pest unter den Tieren

Ein Übel, schreckhaft, wo es je erstand,
Ein Übel, das des Himmels Zorn erfand,
Der Erde Übeltun zu rächen,
Die Pest (kaum wag ich's auszusprechen),
Sie, die den Acheron so schnell bereichern kann,
Fiel kriegerisch die Tiere an.
Nicht alle starben, aber alle wurden krank:
Nicht einer, der noch sorgte, daß er aß und trank.
Kein Mahl erregte ihre Gier,
Nicht Wolf noch Fuchs umspähten mehr
Das unschuldvolle Beutetier.
Die Turteltauben flogen unstet hin und her,
Sie suchten keine Liebe, keine Freude mehr.

Der Leu hielt Rat und sprach: »Ich glaub es zu erfassen:
Ob unsrer Sünden groß und schwer
Hat diese Pein der Himmel zugelassen.
Drum säume unser größter Sünder nicht,
Dem Zorn des Himmels sich als Sühne anzutragen.
Vielleicht daß dies die Härte unsrer Strafe bricht.
Ihr wißt ja, daß man oft in ähnlich schlimmen Lagen
Solche Ergebenheitsbeweise brachte.
Bekennt euch also. Jeder hier betrachte
Ganz ohne Nachsicht sein Gewissen.
Was mich betrifft: fiel mich der Hunger an,
So hab ich oft ein Schaf zerrissen,
Das nicht das kleinste mir zuleid getan;
Und hie und da geschah's,
Daß ich sogar den Hirten aß.
Ich will mich opfern, wenn es nötig ist.
Doch scheint mir’s richtig, daß erst jedermann ermißt,
Ob nicht noch schwerer wiegt sein eignes Sündenmaß,
Da es gerecht ist, daß der größte Sünder stirbt.«
»Oh, unser guter König,« rief der Fuchs darauf,
»Der hier wie immer unser aller Lob erwirbt!
Doch, Herr, Ihr fraßt nur Schafe, dummen Pöbel auf –
Wie könnt Ihr denken, daß dies eine Sünde wäre?
Nein, nein! Indem Ihr sie zu Eurem Mahl ergrifft,
Erwiest Ihr ihnen hohe Ehre.
Und was den Hirten anbetrifft,
Der war gewiß des Todes wert,
Da er zu jenen Leuten ja gehört,
Die sich in ihrem Hochmut oft so weit vergaßen,
Sich über uns, die Tiere, Rechte anzumaßen.«
So sprach der Fuchs. Die Schmeichler pflichteten ihm bei.
Man wagte auch dem Tiger, Bär und andern Großen
Nicht nachzuweisen, daß ihr Rauben sündhaft sei.
Man scheute sich, die starken Frevler zu erbosen,
Sie alle bis zum Hofhund hieß man heilige Leute.
Nun kam der Esel an die Reih:
»Ich kam an einer Klosterwiese einst vorbei.
Die zarten Gräser, die Gelegenheit zur Beute,
Der Hunger und, ich glaube, irgendwelcher Teufel
Verführten mich, den grünen Rasen
Auf Zungenbreite abzugrasen.
Da tat ich unrecht – ohne Zweifel.«
»O Schmach!« schrie man den Esel an.
Und ein gerißner Wolf bewies mit vielen Phrasen,
Die Pest sei darum da, um diese Tat zu rächen,
Das räudige Eselsvieh allein sei schuld daran.
Die kleine Sünde ward der Strafe wert ermessen.
Welch ein empörendes Verbrechen:
Der andern Leute Gras zu fressen!
Der Tod nur sühnte solche Tat des Bösewichts.
Das zeigte man ihm gar geschwind.

Ganz je nachdem, wie mächtig oder schwach wir sind,
Macht weiß uns oder schwarz das Urteil des Gerichts.



Jean de Lafontaine

Samstag, 20. Februar 2010

Ein solches Reden ist wahrhaft lautes Denken

Auch Lafontaine gibt, in seiner Fabel: les animaux malades de la peste, wo der Fuchs dem Löwen eine Apologie zu halten gezwungen ist, ohne zu wissen, wo er den Stoff dazu hernehmen soll, ein merkwürdiges Beispiel von einer allmählichen Verfertigung des Gedankens aus einem in der Not hingesetzten Anfang. Man kennt diese Fabel. Die Pest herrscht im Tierreich, der Löwe versammelt die Großen desselben, und eröffnet ihnen, daß dem Himmel, wenn er besänftigt werden solle, ein Opfer fallen müsse. Viel Sünder seien im Volke, der Tod des größesten müsse die übrigen vom Untergang retten. Sie möchten ihm daher ihre Vergehungen aufrichtig bekennen. Er, für sein Teil, gestehe, daß er, im Drange des Hungers, manchem Schafe den Garaus gemacht; auch dem Hunde, wenn er ihm zu nahe gekommen; ja, es sei ihm in leckerhaften Augenblicken zugestoßen, daß er den Schäfer gefressen. Wenn niemand sich größerer Schwachheiten sich schuldig gemacht habe, so sei er bereit zu sterben. »Sire«, sagt der Fuchs, der das Ungewitter von sich ableiten will, »Sie sind zu großmütig. Ihr edler Eifer führt Sie zu weit. Was ist es, ein Schaf erwürgen? Oder ein Hund, diese nichtswürdige Bestie? Und: quant au berger«, fährt er fort, denn dies ist der Hauptpunkt: »On peut dire«; obschon er noch nicht weiß, was? »qu'il méritoit tout mal«; auf gut Glück; und somit ist er verwickelt; »etant«; eine schlechte Phrase, die ihm aber Zeit verschafft: »de ces gens la«, nun erst findet er den Gedanken, der ihn aus der Not reißt: »qui sur les animaux se font un chimerique empire«. Und jetzt beweist er, daß der Esel, der blutdürstige! (der alle Kräuter auffrißt), das zweckmäßigste Opfer sei, worauf alle über ihn herfallen, und ihn zerreißen.

Ein solches Reden ist wahrhaft lautes Denken. Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen nebeneinander fort, und die Gemütsakte, für eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse.

Heinrich von Kleist
aus: Über die allmähliche Verfertigung
der Gedanken beim Reden

Freitag, 19. Februar 2010

Schneemann


Seht den Mann, o große Not!
Wie er mit dem Stocke droht
Gestern schon und heute noch!
Aber niemals schlägt er doch.
Schneemann bist ein armer Wicht,
Hast den Stock und wehrst dich nicht.

Freilich ists ein gar armer Mann,
Der nicht schlagen noch laufen kann;
Schleierweiß ist sein Gesicht.
Liebe Sonne, scheine nur nicht,
Sonst wird er gar wie Butter weich
Und zerfließt zu Wasser gleich.

Wilhelm Hey

Donnerstag, 18. Februar 2010

Der knorrige Baum

Meister Ki vom Südweiler wanderte zwischen den Hügeln von Schang. Da sah er einen Baum, der war größer als alle andern. Tausend Viergespanne hätten in seinem Schatten Platz finden können.

Der Meister Ki sprach: »Was für ein Baum ist das! Der hat gewiß ganz besonderes Holz.«

Er blickte nach oben, da bemerkte er, daß seine Zweige krumm und knorrig waren, so daß sich keine Balken daraus machen ließen. Er blickte nach unten und bemerkte, daß seine großen Wurzeln nach allen Seiten auseinandergingen, so daß sich keine Särge daraus machen ließen. Leckte man an einem seiner Blätter, so bekam man einen scharfen, beißenden Geschmack in den Mund; roch man daran, so wurde man von dem starken Geruch drei Tage lang wie betäubt.

Meister Ki sprach: »Das ist wirklich ein Baum, aus dem sich nichts machen läßt. Dadurch hat er seine Größe erreicht. Oh, das ist der Grund, warum der Mensch des Geistes unbrauchbar für das Leben ist.«
Dschuang Dsi
Übers.: Richard Wilhelm

Mittwoch, 17. Februar 2010

Emma und Eginhardt


An Betty

Geh, Betty, schließ die Halle zu
Und gieb die Harfe mir;
Von einem Fräulein, schön wie Du
Sing ich ein Liedchen Dir.

Der große Carl, ein deutscher Held,
Des Fräuleins Vater war;
Die Sachsen schlug er aus dem Feld
Und manche Maurenschaar.

Doch Emma war so furchtbar nicht,
Mild, heiter, minnereich;
Ein Rosenbeet war ihr Gesicht,
Ihr Aug dem Himmel gleich.

Die schlaue Mutter hielt sie hart;
Kein Ritter kam ihr nah,
Bis auf den Junker Eginhard,
Den Schreiber des Papa.

Ein hübscher Mann aus altem Stamm,
Pechschwarz von Aug und Haar,
Flink wie ein Hirsch, sanft wie ein Lamm,
Und keck wie Roland war.

Den ganzen Winter gab er ihr
Im Schreiben Unterricht;
Allein sie sah nicht aufs Papier,
Nur stets ihm ins Gesicht.

Ein weiches Herz führt Mädchen weit
Im siebenzehnten Jahr.
Herr Eginhard in kurzer Zeit
Der Hahn im Korbe war.

Einst hatte Carl das Zipperlein
Und zog mit seinem Weib,
Der schönen Hildegard, allein
Im Schach zum Zeitvertreib.

Im Vorsaal bebt des Schreibers Knie
Vor Nachtfrost. Immer wach
Führt Satan ihn, man weiß nicht wie
In Emmas Schlafgemach.

Lag sie zu Bett? Die Chronika
Sagt nichts davon. Genug,
Der arme Junker wärmt sich da,
Bis Glocke zwölfe schlug.

Die Mette schallt. Mit einem Kuß
Entwich er. Doch, o weh!
Im Hof, durch den er waten muß,
Lag nun ein tiefer Schnee.

Was seh ich, schrie er, großer Gott!
Läßt sich mein Fußtritt sehn,
So sterb ich heut auf dem Schaffot,
Du mußt ins Kloster gehn.

Stumm, wie die Schmerzensmutter, lief
Das Fräulein durchs Gemach;
Auf einmal stand sie still und rief:
Nur mir, Geliebter, nach.

Auf ihren Schultern trägt sie ihn,
Beym klaren Mondenschein,
Durch den beschneyten Schloßhof hin,
Bis in sein Kämmerlein.

Doch ach, ihr Heilgen alle, steht
Dem armen Paare bey!
Carl sieht aus seinem Kabinet
Die seltne Reuterey.

Voll Wuth griff er nach seinem Schwerdt,
Schoß wie ein Pfeil heran:
Sterbt beyde, rief er – Nein, bekehrt
Euch erst! – Holla, Caplan!

Der Priester hörts; mit schwerem Kopf,
Das Chorhemd in die Queer,
Mit ofnem Wams und Hosenknopf
Flog er bestürzt daher.

Er sah – Nur Hogarth malt das Bild –
Das Fräulein auf den Knien,
Carl mit dem Schwerdt, der Knapp als Schild
Gelehnet auf sie hin.

Was soll ich? lallt Probst Engelbert
Mit einer Hand im Haar.
Ey nun, ruft Carl und senkt sein Schwerdt,
Vermähle dieses Paar.
Gottlieb Konrad Pfeffel
aus: Poetische Versuche,
Erster bis Dritter Theil, Band 1, S. 56-60.
Tübingen 1802

Sonntag, 14. Februar 2010

De Swienegel als Wettrenner

 

Dat Wettlopen twischen den Haasen un den Swienegel up de lütje Heide bi Buxtehude

Düsse Geschicht is lögenhaft to vertellen, Jungens, awer wahr is se doch! Denn mien Grootvader, van den ick se hew, plegg jümmer, wenn he se mi vertellde, dabi to seggen: »Wahr mutt se doch sien, mien Söhn, anners kunn man se jo nich vertellen!«
De Geschicht hett sick awer so todragen.
Et wör an eenem schönen Sündagmorgen, to'r Harvsttied, jüst as de Bookweeten blöde. De Sünn wör hellig upgaan an Hewen, de Morgenwind güng warm öwer de Stoppeln, de Larken süngen inn'r Lucht, de Immen sumsten in den Bookweeten, un de Lüde güngen in eeren Sündagsstaat nah'r Karken, un alle Kreatur wör vergnögt, un de Swienegel ook.
De Swienegel awer stünd vör siener Dör, harr de Arm ünnerslagen, keek dabi in den Morgenwind hinut, un quinkeleer'de en lütjet Leedken vör sick hin, so good un so slecht, as nu eben am leewen Sündagmorgen en Swienegel to singen pleggt. Indem he nu noch so half liese vör sick hin sung, füll em op eenmal in, he künn ook wol, mittlerwiel siene Fro de Kinner wüsch un antröck, en beeten in't Feld spazeeren un mal tosehn, wie siene Stähkröwen stünden. De Stähkröwen wören awer de nöchsten bi sienem Huuse, un he plegg mit siener Familie davon to eeten, darüm seeg he se as de sienigen an.
Gesagt, gedahn. De Swienegel maakde de Huusdör achter sick to un slög den Weg nah'n Felde in. He wör noch nich gans wiet vonn Huuse un wull jüst üm den Slöbusch, de da vör'm Felde liggt, na den Stähkröwen-Acker hinupdreien, as em de Haas' bemött, de in ähnlichen Geschäften uutgahn wör, nämlich um sienen Kohl to beseh'n. As de Swienegel den Haasen ansichtig wor, so böhd' he em en fründlichen »Go'n Morgen!« De Haas' awer, de up siene Wies' en vörnehmer Herr was, un grausam hochfahrtig dabi, antwoorde nicks up den Swienegel sienen Gruß, sondern seggte to'm Swienegel, wobi he en gewaltig höhnische Mien' annöhm: »Wie kummt et denn, dat Du hier all bi so fröhem Morgen im Felde rumlöppst?«
»Ick gah spazeeren!« seggt de Swienegel.
»Spazeeren?« lachde de Haas', »mi dücht', Du kunnst de Been' ook wol to betern Dingen gebruuken!«
Düsse Antwoord verdröt den Swienegel ungeheuer, denn alles kunn' he verdregen, awer up siene Been' leet he nicks kamen, eben weil se von Natur scheef wören.
»Du bildst Di wol in«, seggt' nu de Swienegel to'm Haasen, »as wenn Du mit Diene Been' mehr utrichten kannst?«
»Dat denk ick«, seggt' de Haas'.
»Dat kummt up'n Versök an«, meent' de Swienegel, »ick pareer, wenn wi in de Wett' loopt, ick loop' Di vörbi!«
»Dat is tum Lachen, Du mit Diene scheefen Been'?« seegt' de Haas', »awer mienetwegen magt' sien, wenn Du so övergroote Lust hest. Wat gelt de Wett'?«
»En golden Lujedor un'n Buddel Brannwien«, seggt' de Swienegel.
»Angenahmen!«, sprök de Haas', »sla in, un denn kannt gliek losgahn.«
»Ne, so groote Ihl hett et nich«, meent de Swienegel, »ick bün noch ganz nüchdern; eerst will ick to Huus gahn un en beeten fröhstükken; in'ner halwen Stünd' bün ick wedder hier up'n Platz.«
Damit güng de Swienegel, denn de Haas' wör et tofreden.
Uennerwegs dachde de Swienegel bi sick: »De Haas' verlett sick up siene langen Been, awer ick will em wol kriegen; he is zwar en förnehm' Herr, awer doch man'n dummen Keerl - un betahlen sall he doch!«
As nu de Swienegel to Huuse anköm, sprök he to sien Fro: »Fro, trekk Di gau an, du must mit mi nah'n Feld' hinut!«
»Wat givt et denn?« seggt' sien Fro.
»Ick hew mit'n Haasen wett' üm'n golden Lujedor un'n Buddel Brannwien; ick will mit em inne Wett' loopen, un da sast Du mit dabi sien.«
»O, mein Gott, Mann!« füng nu den Swienegel sien Fro an to schreen, »büst Du nich klook, hest Du denn ganz den Verstand verlaarn? Wie kannst du mit den Haasen in de Wett loopen wöllen?!«
»Holl dat Muul, Wief«, seggt' de Swienegel, »dat is mien Saak! Resonehr nich in Männergeschäfte! Marsch, treck Di an, un denn kumm mit!« Wat sull den Swienegel sien Fro maken? Se mußt' wol folgen, se mugg nu wölen oder nich!
As se nu mit enander ünnerwegs wören, sprök de Swienegel to sien Fro: »Nu paß up, wat ick seggen will. Süst Du, up den langen Acker, dar wöl'n wi unsen Wettloop maken. De Haas' löpt nämlich in der eenen Föhr un ick in'ner andern; un von baben fang wi an to loopen. Nu hest Du wieder nicks to dohn, as Du stellst Di hier ünnen in de Föhr, un wenn de Haas' up de annere Siet ankummt, so röpst Du em entgegen: »Ick bün all hier!«
Damit wör'n se bi den Acker ankamen; de Swienegel wiesde siener Fro ehren Platz an, un güng nu den Acker hinup. As he baben anköm, wör de Haas' all da.
»Kann et losgahn?« seggt' de Haas'.
»Ja wol!« seggt' de Swienegel.
»Denn man to!« un damit stellde jeder sick in siene Föhr; de Haas' tellde: »Hahl Een! Hahl Twee! Hahl Dree!« - un los güng he, wi en Stormwind, den Acker hindal. De Swienegel awer löp ungefähr man dree Schritt, dann duhkde he sick dahl in de Föhr un bleev ruhig sitten.
As nu de Haas' in vullen Loopen ünnen am Acker anköm, röp em den Swienegel sien Fro entgegen: »Ick bün all hier!«
De Haas' stutzd' un verwunner sick nich wenig; he meende nich anders, as et wör de Swienegel sülvst, de em dat torüp; denn bekanntlich süt den Swienegel sien Fro jüst so uut, wi ehr Mann.
De Haas' awer meende: »Dat geiht nich to mit rechten Dingen. Noch mal geloopen! Wedder üm!« Un foort güng he wedder wi en Stormwind, datt em de Ohren am Kopp flögen. Den Swienegel sien Fro awer blev ruhig up ehrem Platz. As nu de Haas' baben anköm, röp em de Swienegel entgegen: »Ick bün all hier!« De Haas' awer, ganz uuter sick vör Ihwer, schreede: »Noch mal geloopen! Wedder üm!«
»Mi nich to slimm«, antwoorde de Swienegel, »mienetwegen noch so oft, as Du Lust hest.«
So löp de Haas' noch dreeunsöbentig mal, un de Swienegel höhl et ümmer mit em uut.
Jedes Mal, wenn de Haas' ünnen oder baben anköm, seggten de Swienegel oder sien Fro: »Ick bün all hier!«
Tum veerunsöbentigsten mal awer köm de Haas' nich mehr to End'. Midden am Acker stört he to'r Eerd, dat Blod flög em uut'n Hals', un he blev dod up'n Platz.
De Swienegel awer nöhm sien gewunn'nen Lujedor un den Buddel Brannwien, röp siene Fro uut de Föhr aff, un beide güngen vergnögt mit enanner na Huus; un wenn se nich storben sünd, lewt se noch.
So begew et sick, datt up der Buxtehuder Heide de Swienegel den Haasen dod loopen hett, un sied jener Tied hett et sick keen Haas' wedder infallen laten, mit'n Buxtehuder Swienegel in de Wett to lopen.
De Lehre awer uut düsser Geschicht is: Erstens, datt keener, un wenn he sick ook noch so förnehm dücht, sick sall bikamen laten, över'n geringen Mann sick lustig to maken, un wör't ook man'n Swienegel; un tweetens, datt et gerahden is, wenn eener freet, dat he sick 'ne Fro uut sienem Stande nimmt, un de jüst so uutsüht, as he sülvst. Wer also en Swienegel is, de mutt tosehn, dat siene Fro ook en Swienegel is; un so wieder!

Samstag, 13. Februar 2010

Die zwei Kaninchen

 

Unter eines Kirschbaums Schatten
hielten zwei Kaninchen Rast,
zwei Kaninchen, Wirth und Gast,
und, als sie geruhet hatten,
Scherzen sie im Gras herum,
Treten manches Blümchen krumm,
Das erst gestern aufgeblühet,
Hüpfen hin und hüpfen her,
Bis der Gast von ungefähr
Ueber sich was fremdes siehet.

Gleich hebt er den Kopf empor,
Macht ein Männchen, spitzt das Ohr,
Und erblicket einen Schützen,
Zwar von Stein (das wußt’ er nicht)
Der sein Rohr auf ihn gericht,
Um ihn auf den Pelz zu blitzen.
Unserm Häschen wird so heiß,
Daß es nicht zu bleiben weiß.

Endlich merkt es sein Geselle,
Freund! rief er, was soll das seyn?
Jagt dir etwas Schrecken ein?
Freilich grauet meinem Felle
Vor dem Jäger der dort liegt.

Ach! sprach jener, sey vergnügt,
Der hat keinen ausgerottet.
Wisse, dieser böse Mann,
Zielt, so lang ich denken kann.

***

Zorn mit Ohnmacht wird verspottet.


Magnus Gottfried Lichtwer

Freitag, 12. Februar 2010

In einer Stadt …

 

(Parabel)

In einer Stadt, wo Parität
Noch in der alten Ordnung steht,
Da, wo sich nämlich Katholiken
Und Protestanten ineinander schicken
Und, wie's von Vätern war erprobt,
Jeder Gott auf seine Weise lobt,
Da lebten wir Kinder Lutheraner
Von etwas Predigt und Gesang,
Waren aber dem Kling und Klang
Der Katholiken nur zugetaner:
Denn alles war doch gar zu schön,
Bunter und lustiger anzusehn.
Dieweil nun Affe, Mensch und Kind
Zur Nachahmung geboren sind,
Erfanden wir, die Zeit zu kürzen,
Ein auserlesnes Pfaffenspiel:
Zum Chorrock, der uns wohlgefiel,
Gaben die Schwestern ihre Schürzen;
Handtücher, mit Wirkwerk schön verziert,
Wurden zur Stola travestiert;
Die Mütze mußte den Bischof zieren
Von Goldpapier mit vielen Tieren.
So zogen wir nun im Ornat
Durch Haus und Garten früh und spat
Und wiederholten ohne Schonen
Die sämtlichen heiligen Funktionen;
Doch fehlte noch das beste Stück.
Wir wußten wohl, ein prächtig Läuten
Habe hier am meisten zu bedeuten;
Und nun begünstigt' uns das Glück:
Denn auf dem Boden hing ein Strick.
Wir sind entzückt, und wie wir diesen
Zum Glockenstrang sogleich erkiesen,
Ruht er nicht einen Augenblick:
Denn wechselnd eilten wir Geschwister,
Einer ward um den andern Küster,
Ein jedes drängte sich hinzu.
Das ging nun allerliebst vonstatten,
Und weil wir keine Glocken hatten,
So sangen wir Bum Baum dazu.
Vergessen wie die ältste Sage
War der unschuld'ge Kinderscherz;
Doch grade diese letzten Tage
Fiel er mit einmal mir aufs Herz:
Da sind sie ja, nach allen Stücken,
Die neupoetischen Katholiken!

Johann Wolfgang von Goethe

Mittwoch, 10. Februar 2010

Die Ratte und der Elefant


Der Eigendünkel kommt in Frankreich häufig vor:
Man spielt den einflußreichen Mann
Und ist doch nur ein Bürger, nur ein Tor,

Der seiner Eitelkeit nicht widerstehen kann.

Die Eitelkeit ist auch dem Spanier eigen,
Doch pflegt er sie nicht so zu zeigen;
Sein Dünkel scheint mir närrischer zu sein,

Doch nicht so dumm und nicht so kindisch klein.

Den unsrigen soll euch ein Beispiel geben,

Das ich mit Fleiß gezeichnet nach dem Leben.
Die allerkleinste Ratte sah einmal
Den allergrößten Elefanten gehen,
Und höhnte laut, es wäre ein Skandal,

Den Schneckengang des Riesen anzusehen.
Der Elefant war feierlich geschmückt,

Und lang und breit mit schwerer Last beglückt:
Des Sultans edles Weib
Nebst ihrem liebsten Zeitvertreib,

Dem Hündchen, Äffchen und der Katz,
Der Magd und allem Putz und Tand,

Ja selbst dem Papagei noch auf der Hand,

Fand auf des Tieres breitem Rücken Platz

Zu einer fernen Pilgerreise.

Die Ratte höhnte die demütige Weise,

Mit der das Volk zur Seite wich.

»Es scheint,« rief sie, »man achtet den am meisten,
Der rücksichtslos für sich

Den größten Raum in Anspruch nimmt.

Ist's denn die Masse, die den Wert bestimmt?

Kommt's mehr nicht darauf an, etwas zu leisten?
Den Elefanten fürchtet jedes Kind,
Doch wir, die wir viel kleiner sind,

Wir stehn an Kraftbewußtsein ihm nicht nach!«
Das war es, was die tief empörte Ratte sprach.

Sie hätte wohl noch mehr gesprochen,

Doch eine Katze, die herbeigekrochen,

Bewies der eitlen Kleinen kurzerhand,

Daß eine Ratte schwächer als ein Elefant.

Jean de Lafontaine

Dienstag, 9. Februar 2010

Der Katzentrust

 

»Im Amphitheater der Pariser medizinischen Fakultät« – so steht zu lesen – »ist heute der internationale Rattenkongreß eröffnet worden.« Lisa, unterbrich nicht immer! Was für eine Frage! Natürlich Ratten – nein, doch nicht: keine Ratten. Ärzte waren versammelt. Guck: »Professor Roger wies in seinem einleitenden Vortrag darauf hin, dass Paris allein Tausende von Ratten zähle.« Lisa, jetzt komm ich dir aber gleich auf den Kopf! Was für Ratten! Was für Ratten! Solche wie du denkst, bestimmt nicht: die heißen auf französisch ›poules‹, dieselben mit Wasserspülung: ›poules de luxe‹. Fahren wir fort. »Diese Rattenheere bildeten eine ständige Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung.« Jetzt paß auf:
»Man habe zuerst versucht, dem Übel durch eine ausgedehnte Katzenzucht abzuhelfen, es habe sich jedoch herausgestellt, dass viele Katzen sich mit den Ratten zu gemeinsamen Raubzügen verbanden!«
Jetzt ist es also zunächst heraus, warum so viele Katzen in Paris herumsitzen. Sie symbolisieren irgend etwas: den Hausbesitzerstand; die Seele der Portiers, den weiblichen Charme – der Gewerbefleiß ist jedenfalls nicht darunter; denn die Katze ist das einzige vierbeinige Tier, das dem Menschen eingeredet hat, er müsse es erhalten, es brauche aber dafür nichts zu tun. Soweit gut. Diese pariser Katzen aber, meine ganze Freude, sind also ›aufgezogen‹ worden? Bei mir zu Hause, wo sie Schriftdeutsch reden, sagen sie dann gern: »aus bevölkerungspolitischen Gründen« – das hört sich so schön an. Also dazu sind die Katzen da ... sie sollten also doch arbeiten ...
Hat sich was. Denn was ist geschehen –?
Ich stelle mir die Sache ungefähr folgendermaßen vor:
Es ist nachts. Im Vorratskeller beim Potin um die Ecke sitzen die zwei Katzen des Hauses und unterhalten sich. »Schnurr«, sagt die eine – was, wie jeder Kenner weiß, achtzehnsilbig ausgesprochen wird und bedeutet: »Wir könnten eigentlich wieder mal ans Käsefaß gehen.« – »Murr«, sagt die andere Katze. »Ich habe einen leichten Appetit auf Sardinen.« So sprechen sie noch eine Weile – dann wandeln sie sammetpfotig fürbaß, zum Käse und zu den Sardinen.
Nachmittags hat Frau Potin zu der einen gesagt: »Mon petit minou, wenn du eine Ratte siehst ... « – »Ja«, hat Minou gesagt, »das ist ein alter Schlager.« Und hat gebuckelt ... Jetzt ist es so weit.
Aus der Ecke kommt ein leises Pfeifen: Das sind die Ratten. Eine steckt die spitze Schnauze vor ... Minou will sich auf sie stürzen und setzt an ... Da legt ihr die andere ernst die Pfote auf die Schulter. Die Ratte kommt hervor. Da stehen sie alle drei. Schweigen.
»Kinder«, sagt die Ratte. »Das ist doch Unfug, was wir hier machen. Ihr jagt mich, verliert eure Zeit, zum Schluß habt ihr eine Ratte, eine einzige. Die andern laufen, organisiert, wie wir uns haben, fort. Seid doch vernünftig: Ich habe früher in Pillkallen einen Sergeanten gekannt, der pflegte zu seinen Einjährigen, wenn seine Rechnungen bezahlt werden sollten, zu sagen: ›Einjähriger, teilen wir sich dem Raub!‹ Das können wir doch auch! Laßt uns in Ruhe, und drehen wir das Ding zusammen –!«
Jetzt sind die Ratten aus allen Löchern gekommen, die Katzen sehen mit glimmenden Augen ins Dunkel, sie sehen alles und alle. Es herrscht ein mächtiges Gequieke und Geraschel; es ist eine angeregte Unterhaltung, und es wird verhandelt wie bei einer Interessengemeinschaft eben verhandelt wird: wozu hat der Mensch (und das Tier) die Ohren, wenn man sie nicht über dieselben hauen kann? Es wird gehauen. Resultat:
Die Katzen erklären ihr Desinteressement an den Ratten; die Ratten zeigen den Katzen die Vorräte. Herr Potin wird aufgeteilt.
Mit Windeseile verbreitet sich die Nachricht durch alle Röhren, Keller, Lagerräume, Bodenkammern, Hütten und Kanäle von Paris. In einer Nacht ist die Sache perfekt. Die Organe, die zur Bewachung eingesetzt sind, machen mit den Feinden der Vorräte halbpart; der Dumme ist ...
Lisa, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass junge Damen nicht dazwischenreden sollen, wenn sie nicht gefragt sind! Dies ist eine Fabel aus dem Tierreich, Tiere können gar nicht sprechen, und bei den Menschen kommt dergleichen, abgesehen vom Handelsteil, überhaupt nicht vor.
 
 
Peter Panter (Kurt Tucholsky)
Vossische Zeitung, 17.06.1928.

Montag, 8. Februar 2010

Die Ratte

 

Die Ratte als Fabeltier bekommt in der westlichen Kultur fast ausschließlich negative  Attribute. Sie gilt als feige und verschlagen. Wird ein Mensch als Ratte bezeichnet, so sollen diesem dadurch eben genau diese Eigenschaften angehängt werden. Im asiatischen Raum - wo die Ratten ursprünglich herkommen, bevor sie sich über die ganze Welt ausgebreitet haben - werden diese Nagetiere aber auch positiver charakterisiert. In Indien wird die Ratte auch als Symbol für Intelligenz benutzt. Es gibt Tempel, in denen die Tiere von Menschen mit Nahrung versorgt werden und wo es als Glückszeichen gilt, wenn eine Ratte jemanden über den Fuß läuft. In China gilt die Ratte unter anderem als Zeichen für Ehrlichkeit. Im deutschen Sprachschatz hat sich die Ratte auch jenseits der Bezeichnung ihrer Art verewigt: Landratte (für jemanden, der nicht zur See fährt), Rattenloch (für schäbige und dreckige Zimmer) und Rattenschwanz (für fast unübersehbare Folgewirkungen auf eine Handlung oder Tat). 

Horst-Dieter Radke

Sonntag, 7. Februar 2010

Die beiden Mäuse und die Ratte

 

Sechs und dreißigste Fabel

Zwei Mäuse hatten eine Auster gefunden, und jede wollte sie allein haben: man beschloß endlich die Ratte zum Schiedsrichter zunehmen, und überlieferte ihr das streitige Gut. Sie öffnete die Auster, und schluckte sie hinunter: – »Hier ist für jeden eine Schaale!« – sagte Sie: – »Das erste war für die Gebühren.


L–r Streitigkeiten!
Christian August Fischer
 Politische Fabeln
Königsberg 1796

Samstag, 6. Februar 2010

Parabel


Kennst du die Figur der Polonaise,
wenn die Paare, hochgefaßter Hände,
Lauben, wie die Tänzer sagen, bilden?
Und das immer letzte Paar, sich bückend,
durch die Bogen an die Spitze schreitet,
dort als Tor sich wieder aufzustellen?

 
Nun, so wirst du mich begreifen, wenn ich,
dies betrachtend, an die Menschheit denke,
Wie sie sich vom Greis zum Kind erneuert:
Gleich als ob das Paar des höchsten Alters
plötzlich in der andern Rücken schwände,
vorn das Spiel von neuem aufzunehmen ...


Christian Morgenstern

Freitag, 5. Februar 2010

Lessings Fabeln ...

[Lessings] Fabeln sind nicht bloß für Kinder, sondern auch für Männer, und Männer insonderheit lesbar. Noch mehr sind's seine Abhandlungen über das Wesen, den Nutzen, die Einkleidung, das Wunderbare der Fabel, die er seinen Proben beifügte ... Die Abhandlungen über die Fabel insonderheit sind mit einer so glücklichen, leichten, sokratisch-platonischen Analyse geschrieben, daß ich im Geiste dieser Methode ihnen in unserer Sprache Weniges an die Seite zu setzen wüßte.


Johann Gottfried Herder

Donnerstag, 4. Februar 2010

Die Schnecke und die Grille

 

Recht langsam,  Schritt vor Schritt, mit viel Behutsamkeit,
Kroch eine wohl beladne Schnecke
Zu einer nahgelegnen hecke,
Der Weg, so kurz er war, war für die Schnecke weit,
Ein Zeiger an der Uhr kann nicht so sachte gehen,
Itzt zieht sie Hörner ein, itzt streckt sie Hörner aus,
itzt bleibt sie eine Weile stehen,
So drückte sie das Schneckenhaus.

Hier pries sie das Geschick der Grille,
Die an dem Wege saß, und sang:
Wie leicht ist sie, wie schnell ihr Gang!
Sie lebt und singt in edler Stille,
Ein Sprung setzt sie in Sicherheit.
Wenn meine Wohnung mich verbindet auszuhalten,
Und in der Sorge zu veralten.

Die Grille nahm sich hier die Zeit
Die Schnecke heimlich zu belauschen,
Drauf zwitscherte sie ihr zum Trost die Worte zu:
Wie gerne wollt ich mit dir tauschen?
Wenn mich die Wittrung plagt, so liegst und ruhest du
Bequemlich, zugedeckt, verschlossen,
Oft such ich ich in der Nacht kalt, hungrig und verdrossen
Die Ruhe, die dich längst mit sanften Flügeln deckt,
wenn mich der Winterschnee, mit Tod und Krankheit schreckt.
Wenn ich mich mit dem Hunger quäle,
So närst du dich in deiner Höhle.

Hier ist die Grille fortgehüpft,
Ich schließe so aus ihrer Klage:
Wer ledig ist, hat seine Plage,
Und eine Haushaltung ist auch mit Noth verknüpft.

Lichtwehr

Mittwoch, 3. Februar 2010

Die Spinne und das Podagra


Foto: Jeremias Radke

Das Podagra und eine Spinne,
Geführt von ihrem Eigensinne,
Entschlossen sich, die Welt zu sehn
Und Abenteuern nachzugehn.
Sie trafen unterwegs sich an,
Und grüßten sich, da sie sich sahn,
So leicht, so artig und galant,
Als hätten sie sich längst gekannt.
Ich dächte (sprach das Podagra),
Wir setzten nach dem Dorfe da
Zusammen unsre Reise fort.
Es scheint ein wohlgelegner Ort,
Und sind Madam so müd' als ich,
So wird uns Beiden, sicherlich,
Jedwede Herberg, groß und klein,
Auf diese Nacht willkommen seyn.
Der Spinne war das eben recht.
Sie kamen an das Dorf. Geschwächt,
Hinfällig, kraftlos und halb lahm
Erlag das Podagra und nahm,
So bald als möglich, voll Begier,
Beim ersten Bauer das Quartier.
Die Spinne hielt sich für gescheuter
Und nahm den Weg noch etwas weiter,
Bis zu des Edelmannes Haus;
Hier wählt' sie einen Saal sich aus,
In welchem man mit großem Prachte
Zu einem Gastmahl Anstalt machte.
Sogleich nahm sie nach ihrem Witz
Von einem Fensterrahm Besitz;
Hub an, mit emsigem Bestreben,
Viel ihrer Fäden anzukleben.
Doch eh' ihr Netz noch fertig war,
Nimmt eine Stubenmagd es wahr,
Die mit dem Besen d'rüber fährt
Und unbarmherzig es zerstört.
Die Spinne hub von Neuem an
Zu weben, wie sie erst gethan;
Da ward der Saal voll Herr'n und Damen,
Mit denen viel Lakaien kamen.
Ein naseweiser Bursche sah
Der Spinne Netz, und rief: Sieh' da,
Was machst du hier? und stieß sogleich
Den Hut quer durch ihr Fadenreich.
Die Spinne ließ sich's nicht verdrießen,
Und heftete mit muntern Füßen
Ihr hangend halbzerstörtes Nest
Zum dritten Mal am Fenster fest.
Da trat ein junges Fräulein her,
Das sah am Fenster ungefähr
Die Spinne hangen, und schrie laut:
Ach, Herr Baron, mir graut, mir graut!
Und wies mit Schrecken auf die Spinne.
Kaum ward der Herr Baron sie inne,
So zog er wie ein Held den Degen,
Fing an im Netz herumzufegen,
So daß mit Noth die Spinn' entkam
Und aus dem Saal den Abschied nahm.

Dem Podagra ging's fast auch so,
Es ward der Herberg wenig froh.
Nachdem es lange g'nug gesessen,
Sprach es: Ich möcht' ein wenig essen!
Der Bauer brachte trocken Brod,
Zum Trunk dazu kalt Wasser bot;
Dies waren nach so langen Reisen
Für's Podagra sehr schlechte Speisen.
Es aß nicht viel, trank kaum dazu,
Und sprach betrübt: Bringt mich zur Ruh'!
Da wies der Bauer ihm zum Bette
Gar eine harte Lagerstätte,
Worauf ein wenig Stroh nur lag.
Hier lag es kläglich, bis der Tag
Im Osten an zu grauen fing,
Und seufzend es von dannen ging.

Es traf die Spinne wieder an,
Die auch kein Auge zugethan;
Und alle Beide klagten sich,
Wie elend und wie jämmerlich
Sie beiderseits die vor'ge Nacht
In Furcht und Sorgen zugebracht;
Ich seh' wohl, wo der Knoten sitzt,
(Sprach d'rauf das Podagra). Dir nützt
Zum Aufenthalte kein Palast;
So wie ich niemals Ruh' und Rast
Bei schlechten Bauern finden kann.
D'rum geh' du zu dem armen Mann,
Und ich will deinen Junker sehn,
So soll das Ding wohl besser gehn.
Dies waren Beide wohl zufrieden,
Und Beide gingen nun verschieden
Den Weg, so wie der Abend kam.
Das Podagra, voll Hoffnung, nahm
Zum Schloß des Junkers seinen Gang.
Und mit welch freudigem Empfang
Ward es von ihm nicht aufgenommen!
Kaum sah er es gehinket kommen,
So nahm er's höflich bei der Hand,
Führt's in sein Zimmer; d'rinnen stand
Ein Sopha mit viel weichen Kissen,
Davon legt' er ihm drei zu Füßen,
Und sprach: Ihr Gnaden fordern dreist,
Was Ihrem Gaum willkommen heißt.
D'rauf rief er seine Diener her;
Da ward der Tisch nicht einmal leer
Von Thee, und Kaffee, und Orsade,
Von Chokolad' und Limonade,
Alsdann ward von der Schüsseln Menge
Die große Tafel fast zu enge;
Da kam französisches Ragout,
Weit umher dampfend nach haut Gout,
Schön Rostbeef, nach der Briten Art,
Und Austern mit und ohne Bart;
Dann kamen Austern am Kapaun,
Dann Austern, schön gebraten, braun;
Dann wieder Austern in Pasteten,
Dann Fisch mit Austern, bis zum Tödten;
Und schöne Braten, vom Fasan,
Bis auf den feisten Ortolan.
Kurz, Alles, was die Schmausewelt
Für ächte Leckerbissen hält,
War so im Ueberflusse da,
Als wär' es in Hammonia.
Die Weine? ja, wer kann die zählen?
Gewiß! hier durfte keiner fehlen,
Und das Probiren riß nicht ab,
Vom Franzwein bis zum Vin de Cap,
So daß das Podagra sogar
Satt bis zum höchsten Ekel war.

Die Spinne trat zum armen Mann
Indeß auch ihre Wallfahrt an.
Sie fand bei ihm ein freies Leben,
Fing an zu haspeln und zu weben
Nach Herzenslust mit Füßen, Händen
An Thüren, Fenstern, Balken, Wänden,
Und machte sich manch schönes Netz
Nach ihres Eigensinns Gesetz;
Rund mit viel Strahlen krumm und schief,
Gleich, ungleich, seltsam, flach und tief.
So herrschte sie im ganzen Haus,
Und Niemand stört' und trieb sie aus.
Als d'rauf die beiden Wanderer
Nach kurzer Zeit von ungefähr
Sich wieder sahn, da rühmten beide,
Mit welcher wahren Lust und Freude
Ihr Leben nun versüßet sey.
Jedwedes blieb der Herberg treu;
Vergnügen war auf beiden Seiten.
Und so wohnt noch zu unsern Zeiten
Die Spinne bei den Armen gern,
Das Podagra bei großen Herr'n.

Just Friedrich Wilhelm Zachariä