Sonntag, 11. Oktober 2009

Der eigennützige Sperling und die obdachlose Krähe


Ein Sperlingsweibchen erbaute sich einst ein kleines nettes Haus, polsterte es mit Wolle aus, umhegte es mit Stäben, so daß es nicht allein der Sonne im Sommer, sondern auch dem Regen im Winter Widerstand leistete. Eine nebenanwohnende Krähe hatte sich ebenfalls ein Haus gebaut, das war aber nicht so gut, – es war nur aus ein paar Stöckern gemacht, die auf einer stachlichen Birnenhecke lagen. Die Folge davon war, daß das Nest eines Tages von einem ungewöhnlich heftigen Regenschauer fortgeschwemmt wurde, während das des Sperlings unversehrt blieb.

In dieser äußersten Noth gingen die Krähe und ihr Gefährte zum Sperlingsweibchen und sprachen: »Sperling, Sperling, habe Mitleid mit uns, gieb uns Obdach, denn der Wind heult, der Regen strömt her nieder und die stachlichten Dornen der Birnenhecke stechen uns in die Augen.« Das Sperlingsweibchen aber antwortete: »Ich koche gerade mein Essen, ich kann Euch jetzt nicht einlassen. Kommt nachher wieder.« Nach einer kleinen Weile kehrten die Krähen zurück und sprachen: »Sperling, Sperling, habe Mitleid mit uns, und gieb uns Obdach. Der Wind heult, der Regen strömt hernieder und die stachlichten Dornen der Birnenhecke stechen uns in die Augen.« Der Sperling antwortete: »Ich verzehre gerade mein Mittagsmahl, ich kann Euch jetzt nicht einlassen, kommt ein andermal wieder.« Die Krähen flogen fort, kehrten aber nach einer kurzen Zeit zurück und riefen abermals: »Sperling, Sperling, habe Mitleid mit uns, gieb uns Obdach; denn der Wind heult, der Regen strömt hernieder und die stachlichten Dornen der Birnenhecke stechen uns in die Augen.« Der Sperling entgegnete: »Ich wasche gerade meine Schüsseln auf. Ich kann Euch jetzt nicht hereinlassen, kommt nachher wieder.« Die Krähen warteten ein Weilchen, dann riefen sie aus: »Sperling, Sperling, habe Mitleid mit uns, und gieb uns Obdach, denn der Wind heult, der Regen strömt hernieder und die stachlichten Dornen der Birnenhecke stechen uns in die Augen.« Das Sperlingsweibchen aber hatte keine Lust sie einzulassen, sondern erwiderte nur: »Ich fege gerade den Fußboden ab, ich kann Euch jetzt nicht hereinlassen. Kommt nachher wieder.« Als die Krähen das nächste Mal wieder kamen und schrieen: »Sperling, Sperling, habe Mitleid mit uns und gieb uns Obdach; denn der Wind heult, und der Regen strömt hernieder, und die Dornen der stachlichten Birnenhecke stechen uns in die Augen«, antwortete sie: »Ich mache gerade mein Bett, ich kann Euch jetzt nicht einlassen, kommt nachher wieder.«

So suchte sie einen Vorwand nach dem andern und weigerte sich den armen Vögeln zu helfen. Und als sie schließlich mit ihren Jungen das Mittagsessen verzehrt hatte, und das Essen für den folgenden Tag bereit stand, alle Kinder zur Ruhe gebracht und sie selbst zu Bett gegangen war, da rief sie den Krähen zu: »Jetzt könnt Ihr hereinkommen und die Nacht über bleiben.« Die Krähen kamen herein, doch waren sie sehr verstimmt, weil sie so lange im Wind und Regen hatten stehen müssen. Und als das Sperlingsweibchen und ihre Familie schlief, sprachen sie untereinander: »Diese eigennützige Sperlingsfrau hatte kein Mitleid mit uns. Sie hat uns keinen Bissen Essen angeboten und ließ uns erst dann herein, als sie mit sammt ihren Kindern behaglich im Bette lag. Wir wollen sie bestrafen.« Nun nahmen die Krähen all das gute Essen, das die Sperlingsfrau sich und ihren Kinder für den anderen Tag gemacht hatte, und flogen damit fort.

Frere, M.
Märchen aus der indischen Vergangenheit
Hinduistische Erzählungen aus dem Süden von Indien
Jena, 1874

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