Mittwoch, 9. September 2009

Der Feigenbaum und der Weißdorn


Eine Fabel aus dem Französischen, die bei Voltaire's Aufnahme in der Loge z.d. N.S. zu Paris 1778 vorgelesen ward.

Ein schönbelaubter Weißdorn trotzte
Dem Feigenbaum, der um die Frühlingszeit,
Noch kaum belaubt, doch schon von Früchten strotzte,
Und that mit seinen Blüthen breit.
Wo sind denn deine Blüthen? frug
Der Weißdorn ihn – Und wo – erwiedert' jener –
Ist deine Frucht? – Dagegen bin ich schöner,
Versetzt' der Strauch, und das ist mir genug.
So lass' uns denn in Frieden leben,
Erwiederte der Feigenbaum:
Dir hat Natur für's Auge Reiz gegeben,
Mir gab sie Früchte für den Gaum.

Die Fabel gilt den Männern, deren Schriften
Der Welt bald Nutzen, bald Vergnügen stiften:
Der unterhält, der unterrichtet sie.
Die gütige Natur, in ihren Gaben allen
Gleich mütterlich, gibt dem die Gabe zu gefallen,
Und jenem die des Unterrichts, daß nie
Ein Kind von ihr das andere beneide;
Nur ihrem liebsten Sohn Voltairen – gab sie beide.

Aloys Blumauer
aus: Sämmtliche Gedichte.
München 1830, S. 218

1 Kommentar:

Lebenskünstler hat gesagt…

Dem Schreiber Radke
gab sie auch
die beiden Gaben
zum Gebrauch!