Donnerstag, 13. August 2009

Die Schnecke


Zur Mutter sprach die kleine Schnecke:
O Mütterlein, vergönne mir,
Daß ich von jener Buchenhecke
Nur einmal stille die Begier,
Zu schaun ins bunte Weltgewimmel,
Es ist so schön der Morgenhimmel,
So rein die Luft, so still der See1
Gelt, Mütterlien, ich darf? - So geh,
-
Sprach Mütterlein, ich will mich freuen,
wenn munter du zurücke kehrst.
Wohl dir, wird es dich nicht gereuen,
Was täglich du so oft begehrst.
Viele Glück, mein Töchterlein, zur Reise!
Sey fein vorsichtiglich und weise.
Ruh auf dem langen wEg auch aus,
und bring viel Neues mit nach Haus.
-
Und ohne viele Fährlichkeiten
kriecht nun mein Schnecklein frisch empor,
hört tollen Lärm von allen Seiten,
und spitzt darob sein kleines Ohr.
Was wars? – Sieh, dort in grüner Laube
Erwürgt der Habicht eine Taube,
zerreißt der Wolf ein junges Lamm,
Das eben von der Mutter kam.
-
Mit Bückling’ und mit Servitöre
Naht sich der Fuchs dem Hünerstall.
Ein Reiger hascht die munteren Störe
Dort unten an dem Wasserfall.
Der Hund sieht jenen weißen Hasen
Ganz unbesorgt am Hügel grasen,
Wünscht guten Morgen, Heil und Glück,
Und – beißt ihn rücklings ins Genick.
-
Der Löwe lechzt aus dürrer Kehle
nach einem königlichen Schmaus,
Und seine Katze lockt zur Höle
Mit Schmeicheley den Dachs heraus.
Kaum zeigt er sich, so spreitzt die Katze,
Voll innern Grimms die Krallentaze,
Giebt ihm den Fang, legt – weil sie muß –
Den Dachsen vor des Löwen Fuß.
-
Zufrieden wallt die schmalen Stege
ein unbefangner Wandersmann.
Doch dort, aus jenem dunkeln Wege,
Sieh! – schlägt ein Mörder auf ihn an.
Puff! – sinkt der Arme blutig nieder!
Nun zeigt der Schelm sich plötzlich wieder,
Zieht ihn aufs Freye wild heraus,
Und plündert seine Taschen aus.
-
Oh weh! Was sieht man nicht auf Reisen!
Rief Schnecklein mit bethräntem Blick.
Laß uns zurück zur mutter kreisen,
Eh uns noch trift ein gleich Geschick.
»Nun will ich gern im Häuslein bleiben,
Und mir darin die Zeit vertreiben.
In meinem Häuslein ist mir wohl,
Die Welt ist aller Falschheit voll.” *)

*) Die letzten vier Zeilen las der Verfasser schon in seiner frühen Jugend unter einem Gemälde , das eine Schnecke im verschlossenen Haus darstellte. Die Welt hat sich nun seit damals leider so wenig geändert, daß dem Biedermann ein verschlossenes Schneckenhaus mit diesen treuherzigen Reimen noch immer ein bedeutungsvolles Symbol seyn muß.

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