Dienstag, 31. März 2009

Der Iltis und der Kater



Eine Taube trug der Iltis
Ueber's Dach. Der Kater schreit:
»Ei! Verruchter! Unschuldsmörder!
Unerhörte Grausamkeit!« –
»Schimpf nur, Heuchler!« gab's ihm jener
Wieder, »wahrlich! 's steht dir gut.
Klebt doch frisch an deiner Schnauze
Erst erwürgter Henne Blut!
Du beschreiest mein Verbrechen
Nicht aus Pflicht und Billigkeit.
Aergres würdest du beginnen,
Böt sich dir Gelegenheit.«

Friedrich Müller (Maler Müller)

Montag, 30. März 2009

Auch ein Rath


Als ein gewaltiger Uhu im Reiche der Nacht Minister war, wählte er aus den Maulwürfen und Regenwürmern vorzugsweise seine Beamten, weil beide die Finsterniß liebten und beide im dunkeln arbeiteten, weil jene eins ehr feines Gehör hatten und diese im Schlamm- und Weichboden sich fein und geschmeidig durchzuwinden wußten. Als aber das Reich der nacht dem Reiche des Tages endlich weichen und der gehetzte Uhu eilig flüchten mußte, wurde dem Adler die Gewalt übergeben. Aus falschem Mitleid versuchte er’s mit seines Vorgängers lichtscheuen Beamten; aber der Maulwurf bewies sich über der Erde blind und rathlos, und wie das Sonnenlicht den aalglatten Regenwurm beschien, dorrte er ächzend zur Mumie ein. - Da erkannte der Adler alsbald, daß im Regiment des Tages weder Maulwurf noch Regenwurm, überhaupt die Thiere der Nacht nicht für die Aemter taugen.
*
Minister des constitutionellen Oesterreichs, wie Adler sollt Ihr zur Höhe steigen! Man murmelt, Ihr hättet Männer der alten Censur und der geheimen Polizei wohl aus nichtverdientem Mitleid unter eure Flügel gesteckt. Mit blinden Maulwürfen, sind auch ihre Ohren noch so fein gespitzt, und mit Feuchtwürmern, kriechen und winden sie sich im Schlamme noch so fein, kommt Ihr zu den sonnenreichen Höhen nimmermehr hinauf.

Josef Siegmund Ebersberg
aus: Politische Fabeln

Erinnerungen an die stürmischen Tage des Revolutions-Jahres 1848

Wien 1849

Sonntag, 29. März 2009

Fabel


Da stand der Hund vor der Hundehütte, sein Fell war gesträubt wie die Borsten einer Bürste, er lauschte in die weite Nacht. Aus der Nacht ertönte ein Geheul. Es begann hinter dem Wald, und es pflanzte sich zur Schlucht hinüber fort, sacht ansteigend; wenn es dort angekommen war, antwortete eine heulende Stimme, die so jäh anstieg, dass der Hund zitternd in sich zusammenkroch. Dann begann er zu bellen.
Er bellte, gleich heiser einsetzend, so aufgeregt war er; Schaum troff ihm aus dem Maul, er bellte mit der Seele, seine Flanken flogen, obgleich er gar nicht gelaufen war, er stemmte alle vier Pfoten fest auf die Erde, um bessern Halt zu haben – und Geifer, rasende Tobsucht und Wut waren in seiner Stimme ... Da erwachte sein Herr. »Das sind die Wölfe«, sagte der Mann hinter sich in die Hütte und band den Hund los, der ihm nicht von den Hacken wich; er schritt in die Hütte zurück, entsicherte das Gewehr, das an der Wand hing, und legte sich zu seinem Weib. Das Herdfeuer glomm; der Hund träumte. Wenn das Geheul draußen von neuem einsetzte, richtete sich der Hund schnaufend auf, ein kurzer Ruf des Mannes zwang den Knurrenden in die Ruhestellung. Da lag er.
Da lag der Verräter.
Da lag der, der sich vor achttausend Jahren von den Wölfen losgemacht hatte: für Fressen, Sicherheit und einen warmen Platz in der Hütte. Sie hätten ihn zerrissen, wenn sie ihn bekommen hätten – mit ihren Zähnen zerknirscht, zermalmt, zunichte gemacht. Er gab vor, sie zu verachten; aber er haßte sie, weil er sie fürchtete. Der Herr nannte ihn treu und wachsam – es war ganz etwas andres. Um ganz etwas andres ging der ewig währende Kampf zwischen den wilden Hunden und dem gezähmten Hauswolf. Der Kampf ging um die Seele.
Anklage und Urteil war ihr Erscheinen; tiefster Vorwurf ihre Witterung; Donnerspruch ihre Stimme; Glanz des Himmels vor dem Sünder in der Hölle ihre Gestalt – er krümmte sich, wenn er nur an sie dachte. Er wand sich: denn sie hatten recht! sie hatten recht! sie hatten recht! Er war abgefallen, zum Feind übergegangen: aus Feigheit, aus Verfressenheit, aus Faulheit; aus hündischem Stolz, sich in der Gunst seines Herrn sonnen zu dürfen, und womit war diese Gunst erkauft!
Er haßte sie um ihrer Freiheit willen – er war zu schwach, die noch zu wollen. Er ließ sie entgelten, was er nicht hatte werden können. Sie hatten die Freiheit, die herrliche Freiheit und ein hartes Leben – aber sie sollten gar nichts haben! Er haßte sie, weil sie nicht in der Wärme fressen wollten wie er, und er haßte sie, weil es ihm alles, alles nichts genutzt hatte: der Verrat nicht, die Wachsamkeit nicht, die gebratenen Fleischstücke nicht. Er war ein Verschnittener; was da draußen rief, war die Manneskraft, waren die Treue, der Wille und das Herz – was war ihm geblieben! Eine Hundehütte war ihm geblieben.
Ein besonders schriller Schrei drang in die warme Finsternis. Diesmal konnte der am halb verglommenen Feuer nicht an sich halten – laut bellend fuhr er in die Höhe. Mit einem jaulenden Schmerzenslaut duckte er sich nieder: ein Stück Holz war ihm krachend in die Weichteile gefahren. Der Wille des Herrn hatte gesprochen. In hohen Tönen wimmernd lag er gekauert und horchte auf die Stimme der Natur, auf die Stimme der ungebändigten Freiheit, auf die mahnende Stimme, anmahnend das verpfuschte Leben seiner Generationen. Da lag er: ein wohlgenährter Verräter. Ein in Sicherheit lebender Verräter. Ein zutiefst unglücklicher Verräter. Nun war es ganz still geworden. Der Hund schlief.
Zwischen Otto Wels und Lenin bestehen gewisse Gegensätze.
Kurt Tucholsky

Samstag, 28. März 2009

Flohfabeln

Im 16. und 17. Jahrhundert tauchte in der deutschen Literatur der Floh auf. Er diente dabei vorwiegend als Kontrast zu den antiken und mittelalterlichen Tierfabeln. Neben der Darstellung als Parasit wurden ihm aber auch Eigenschaften wie Schnelligkeit, Witz und Intelligenz zugeschrieben.

Frühe Beispiele sind Johann Fischarts (1546 - 1591) »Flöh Haz, Weiber Tratz« (1571/1573) und Wolfhart Spangenbergs (1567 - ungef. 1636) »Von des Flohes Strauß mit der Laus« (1610). Auch Goethe benutzt den Floh, allerdings zur Beschreibung politischer Verhältnisse (»Flohlied« in Goethes Faust in der Trinkerszene in Auerbachs Keller). Ebenfalls politisch setzt E.T.A. Hoffmann das literarische Insekt in seinem berühmten Märchen »Meister Floh« ein, das damals deshalb auch nur in einer zensierten Fassung erscheinen konnte.

Horst-Dieter Radke

Freitag, 27. März 2009

Belehrend für böse Weiber ist folgende Fabel:

Ein Weib wurde von ihrem Manne so mißhandelt, daß sie in der Verzweiflung auf das Feld lief, in der Absicht, sich selbst das Leben zu nehmen. Hatte sie den Muth nicht, oder besann sie sich eines Bessern, kurz! es unterblieb. Trostlos setzt sie sich an den Fuß eines Strauchs, und weinte und klagte bitterlich. Da fieng der Strauch zu sprechen an. »Du hast Unrecht«, sagte er, »dich zu beklagen, da du selbst die Ursache deiner Leiden bist. Du erbitterst deinen Mann durch Eigensinn und Widerstand. Betrachte meinen Nachbar, die Eiche, und sieh, wie seine Blätter zerfetzt, und seine Äste zersplittert sind. Die Starrsinnige bietet den Stürmen Trotz, und diese rächen sich dann, und verursachen diese Verwüstung. Ich bleibe unversehrt, denn ich biege und schmiege mich, wenn die Stürme toben. Folge meinem Beyspiel.«

Ein zänkisches Weib ist wie ein immer durchtriefendes Dach.

Der Gatte eines solchen Weibes ist ein bedaurenswerther Tropf; die Dienstbothen, die Kinder sind unter ihrer Zuchtruthe arme Tröpfe.

Wenn indessen von einer Seite ein zänkisches Weib die größte Plage ist, so liegt wohl manchmal und sehr oft der Fehler bey den Männern. Sie sind ärger, als der Satan. Wenn diese Menschen nur bedenken wollten, daß sie mit ihrem Toben, und zornig seyn, nichts nützen, wohl aber viel schaden.

Abraham a Santa Clara
aus: Das kleine Ehe-Barometer

Donnerstag, 26. März 2009

Die 80. Fabel: Eines angeklagten Weibesbildes Entschuldigung


Ein Weibesbild, die sich hatte beschlaffen lassen, ward zum Stadtvogt gebracht, und von ihm befragt. Sie konnte die That zwar nicht läugnen, sie suchte sie aber zu entschuldigen. Diesfalls, als sie der Stadtvogt fragte: ob sie ganz nackend bey dem Kerl im Bette gelegen hätte? gab sie zur Antwort: Nein! Ich hatte meine Haube auf. Aber der Stadtvogt ließ sich durch diese Entschuldigung nicht bewegen, die Busse zu mäßigen.

Diese Fabel zeiget, daß man nichts damit gewinnet, wenn man seiner Sache ein Färbchen anstreichen will, und daß man seine Keuschheit durch keine Haube beweisen kann.

Moralische Fabeln mit beygefügten Erklärungen einer jeden Fabel
Aus dem Dänischen des Herrn Barons von Holberg
übersetzt durch J.A.S.K.D.E.,
Leipzig 1752

Mittwoch, 25. März 2009

Krispin und Krispine


Daß oft die Weiber bis ins Grab
Sich mit den Männern schlecht vertragen,
Sind leider schon sehr alte Klagen,
Die man uns oft zu lesen gab.
Doch daß die Männer bis ins Grab
So manche gute Gattin plagen,
Sind dies nicht auch gerechte Klagen?
Doch welcher Sänger singt sie ab?
Daß oft die Frau zum Zeitvertreibe
Dem Manne zänkisch widerspricht,
Darüber klagt manch Spottgedicht.
Doch daß der Mann mit seinem Weibe
Oft als mit einer Sklavin spricht,
Wie selten straft dies ein Gedicht!
Daß Weiber nicht zu folgen wissen,
Darüber seufzt und klagt der Mann.
Doch sollte man daraus nicht schließen,
Daß Männer nicht zu herrschen wissen,
Weil ihre Frau so schwer gehorchen kann?
Daß Weiber gern dem Staate sich ergeben
Und leben, um geputzt zu leben,
Darüber sorgt der Mann sich grau.
Doch daß die Männer sich dem Kaltsinn gern ergeben,
Nur sich, nicht ihren Weibern leben,
Wie sehr beseufzt dies manche Frau!
Daß bei dem Reiz der äußerlichen Gaben
Die Weiber oft der Seele Reiz nicht haben,
Dies ist vielleicht nicht selten wahr.
Doch daß die Männer oft nur Geld und Schönheit ehren,
Der Frau, Verstand zu haben, wehren,
Sie durch ihr Beispiel Torheit lehren
Und über Torheit sich beschweren,
Klingt in der Tat sehr wunderbar;
Und dennoch ist's nicht selten wahr.

Drum, Männer, lest ihr, wie Krispine
So herzlich den Krispin gehaßt:
So legt's nicht gleich mit einer Männermiene
Der armen Frau allein zur Last.
Und seid ihr selbst unglückliche Krispine,
So denkt, wie euch Krispine haßt:
Ob ich's vielleicht wohl gar verdiene?
Und bessert euch. Vielleicht tut's auch Krispine.
Krispine starb, und binnen wenig Tagen
Starb auch Krispin, ihr Mann, schon nach,
Und zwar vor lauter Schmerz und Ach,
Wenn wir das Leichencarmen fragen.
Doch viele wollten lieber sagen,
Der Zorn hätt' ihn dahingerafft;
Allein der Zorn ist nicht der Männer Leidenschaft.

Genug, er starb und ward, weil er's so haben wollte,
Daß sein Gebein bei der verwesen sollte,
Die ihn gewartet und gepflegt,
Zu seiner Frau ins Grab gelegt.
So lag denn Mann und Weib in Einer Gruft vereinet;
Und niemand hätte das vermeinet,
Was nach der Zeit mehr als zu oft geschehn.
Die Frau ließ sich bei ihrem Grabe
Des Nachts im Sterbekleide sehn.
Der Küster und des Küsters Knabe,
Keins wollte mehr zum Morgenläuten gehn;
Denn allemal ließ sich Krispine sehn
Und wies ganz ängstlich nach dem Grabe.

Der Küster wagt's den neunten Tag
Und ruft die sämtlichen Krispinen,
Macht dreimal erst das Kreuz und sagt, wer ihm erschienen,
Und forscht und überlegt mit ihnen,
Was doch die Ruh' der Sel'gen stören mag.
»Hat sie vielleicht im Tode was befohlen?« –
»Nichts«, fing die Freundschaft an, »nichts als den Leichenstein.« –
»Das«, ruft der Küster, »wird es sein.«

Man läßt geschwind den schönsten Grabstein holen;
Der Steinmetz haut zwei Herzen in den Stein
Und diese Schrift vom Küster ein:
»Hier ruht ein zärtlich Paar voll gleicher Lieb' und Treue;
Der Tod, der sie getrennt, vereinte sie aufs neue.«

Nun wird die Frau doch ruhig sein?
Nichts weniger. War sie zuvor erschienen,
Erschien sie nur noch mehr und mit noch bängern Mienen
Und lief dem guten Küster nach
Und öffnete den Mund, als ob sie sprechen wollte;
Allein ein unvernehmlich Ach,
Dies war es alles, was sie sprach.
Wer wußte nun, was das bedeuten sollte?

Man öffnete das Grab. Es war kein Sarg versehrt,
Und wie man sie gelegt, so lagen sie noch heute;
Zur rechten er und sie zur linken Seite.
»Nein«, schrie der Küster, »umgekehrt!
Ihr, Totengräber, seid nicht wert –«

Der Sarg ward umgesetzt; allein die Folge lehrte,
Daß nicht der Rang des Weibes Ruhe störte.
Mich deucht, dies ist der Schönen Fehler nicht.
Und ist er's ja, wie mancher Spötter spricht:
So ist er's doch im Grabe nicht.

Krispine ließ nicht nach, dem Küster zu erscheinen.
Sie weinte so, wie Schatten weinen,
Wies immer auf ihr Grab und machte mit der Hand
Ein Zeichen, das zuletzt der Küster doch verstand.
Er ließ noch diese Nacht den Totengräber kommen.
Der Mann ward aus der Gruft genommen
Und weit davon besonders eingescharrt.
Und noch in beider Gegenwart
Verschwand die Frau mit heitern Mienen
Und ist seitdem nicht mehr erschienen.

Christian Fürchtegott Gellert

Die 60. Fabel, oder Historie: Eine gelehrte Dame in der Versammlung der Gelehrten

Einige gelehrte Leute hatten sich versammlet, um sich über allerhand philosophische Materien zu unterreden. Ein Frauenzimmer, welche auch studieret hatte, fand sich dabey ein. Einer von ihnen, welcher die Dame nicht kannte, und der Meynung war, sie wollte durch ihre Ankunft ihre gelehrte Versammlung stören, sagte darauf: Quid Saul inter Prophetas? Das ist: Was will Saul unter den Propheten? Sie aber antwortete auf Latein: Quarit Afinos Domini sui: Das ist: Er sucht die Esel seines Herrn.

Diese Historie zeiget, daß man oft eine unerwartete Antwort erhält, wenn man sie am wenigsten erwartet hat.

Moralische Fabeln mit beygefügten Erklärungen einer jeden Fabel
Aus dem Dänischen des Herrn Barons von Holberg
übersetzt durch J.A.S.K.D.E.
Leipzig 1752

Dienstag, 24. März 2009

Frauenzimmer und Spiegel


Ein Frauenzimmer war voll Flecken,
Und überhaupt nicht wohlgestalt,
Auch sechs und dreyßig Jahr schon alt,
Doch suchte sie mit großem Fleiß,
Durch ein erkauftes Roth und Weiß,
Die Misgestalt zu überdecken.
so oft sie vor den Spiegel trat,
Und sich in seinem Glas besahe,
(Das dann sowohl des Abends spat,
Als Morgens und Mittags, geschahe,)
Fuhr sie mit zornigen Gebehrden
Denselben also grimmig an:

Was stellst du mich, du grober Thor,
So ungestalt und häßlich vor?
Wart nur, du sollst bald inne werden,
Wie unbesonnen du gethan,
Wenn ich mich künftig an dir räche,
Und dich in tausend Stücken breche.
Es liegt ja nur allein an dir,
Daß ich so unannehmlich scheine;
Denn wie ich von mir selber meyne,
Komm ich mir nicht so häßlich für;
Drum ändre künftig diese Sache,
Und denke stets an meine Rache.

Ach! Sprach der Spiegel, ach du fehlst!
Daß du die Schuld auf mich geschoben;
Es ist umsonst, daß du so schmählst,
Ich kann nicht schelten oder loben;
Mein stets gerechter Ausspruch fällt,
Wie sich ein Ding mir fürgestellt;
Ich pflege nie was zu verstecken,
Und zeig an jedem Angesicht
Aufrichtig alle Fehl und Flecken,
ich mach sie aber selber nicht’.
Was ich an jeglichem erblicke,
Das geb ich ihm getreu zurücke.
Wer nur ein Auge hergebracht,
Kann ja nicht zwey von hinnen tragen;
Und wem die Nase krumm gemacht,
Dem wird sie hier nicht gleich geschlagen.
ich ändre niemals die Gestalt,
Schön wird nie garstig, jung nie alt.
***
Wenn treue Lehrer uns die Flecken
Des sündlichen Gemüths entdecken:
So sey man nicht im Zorn entflammt,
Noch suche sich dafür zu rächen;
Sie thun ihr Straf- und Warnungsamt,
Und müssen so, nach ihrer Pflicht,
Nothwendig mit uns ernstlich sprechen;
Sie zeigen uns nur die Gebrechen;
allein sie machen solche nicht.

Daniel Wilhelm Trillers
aus: Neue aesopische Fabeln, Hamburg 1740

Montag, 23. März 2009

Die Frauen und das Geheimnis


Nichts wiegt wie ein Geheimnis schwer,
Drum können's Frauen nicht weit tragen.
Doch weiß ich auch von manchem Mann zu sagen:
Er gleicht darin den Frauen sehr.

Um seine zu erproben, rief ein Mann
Des Nachts an ihrer Seite: »Gott! Was fang ich an?
Ich kann nicht mehr – oh, es zerreißt mich fast!«
»Was denn?« »Ich muß ein Ei gebären!« »Wie, ein Ei?«
»Ja, welche Last!
Sieh her, wie frisch und neu!
Nur bitt ich dich, erzähl es nicht herum,
Denn daß man sagt, ich sei ein Huhn, ist mir zu dumm.«
Die junge Frau, der dieser Fall so neu
Wie manches andre von den Ehedingen,
Glaubt auch an diesen und verspricht zu schweigen.
Kaum aber kam der Tag herbei,
Da kann sie nicht mehr sich bezwingen,
Es brennt sie, aus dem Bett zu steigen
Und hinzugehn zur Nachbarin.
Sie sagt ihr: »Ach, Gevatterin,
Ach denkt nur, was geschehen!
Doch redet's nicht herum, sonst tät's mir schlecht ergehen.
Mein Mann hat heute Nacht
Ein Ei zur Welt gebracht,
Das ist so groß wie vier.
Nur bitt ich Euch, versprechet mir,
Daß Ihr darüber schweigt.«
»Wie wundersam!« sprach jene; »doch Ihr zeigt
Zu große Angst. Natürlich bin ich stumm.«
Die Frau des Eierlegers geht nach Haus.
Die andre klatscht natürlich gleich herum
Und trägt's nach zehn verschiednen Seiten aus.
Anstatt von einem Ei spricht sie von dreien.
Doch das schien nicht genug, denn schon die nächste Frau
Erzählt von vieren. Lüge will gedeihen.
So nimmt es keine sehr genau.
Die Zahl der Eier steigt und steigt,
Von Mund zu Munde wächst sie an –
Was Wunder dann,
Daß sie, als sich die Abendsonne neigt,
Bereits an hundert zeigt.

Jean de La Fontaine

Sonntag, 22. März 2009

Wiener Fabel


Die »Wiener Kleinepikhandschrift« ist eine in der Österr. Nationalbilbiothek (Wien) vorhandene Pergamentsammlung mit 854 Versen aus dem Mittelalter, in der u.a. von Stricker (Reimpaardichtungen), Walther von Griven, Rudolf von Ems Texte enthalten sind.

Eine Gruppe von 38 unzusammenhängend aufgezeichneten Reimpaarfabeln werden als das sog. Wiener Fabel- und Bispelcorpus bezeichnet.

Horst-Dieter Radke

Donnerstag, 19. März 2009

The Moral Principle and the Material Interest

A Moral Principle met a Material Interest on a bridge wide enough for but one.
»Down, you base thing!« thundered the Moral Principle, »and let me pass over you!«
The Material Interest merely looked in the other's eyes without saying anything.
»Ah,« said the Moral Principle, hesitatingly, »let us draw lots to see which shall retire till the other has crossed.«
The Material Interest maintained an unbroken silence and an unwavering stare. »In order to avoid a conflict,« the Moral Principle resumed, somewhat uneasily, »I shall myself lie down and let you walk over me.«
Then the Material Interest found a tongue, and by a strange coincidence it was its own tongue.
»I don't think you are very good walking,« it said. »I am a little particular about what I have underfoot. Suppose you get off into the water.«
It occurred that way.


Ambrose Bierce

Mittwoch, 18. März 2009

Velázquez: Die Fabel der Arachne

Quelle: http://www.zeno.org - Zenodot Verlagsgesellschaft mbH

Die Lydierin Arachne trägt einen Wettstreit im Weben mit der Göttin Athene aus. Sie verliert und wird von Athene in eine Spinne verwandelt. Velázques hat diesen Mythos in seinem Bild »Die Spinnerinnen« thematisiert – allerdings nich
t direkt. Die alte Frau links im Vordergrund mit dem entblößten (jugendlich aussehndem) Bein stellt die Göttin Athene da, die unerkannt am Wettstreit teilnimmt, das Mädchen daneben Arachne. Im Hintergrund ist ein Bild zu sehen, das Zeus und Europa thematisiert, das Webstück, das Arachne gefertigt hat.

Horst-Dieter Radke

Dienstag, 17. März 2009

Über die Bedeutung des Babrios

Als mit der Freiheit und Unabhängigkeit zugleich das eigenthümliche Volksleben der griechischen Städte und Landschaften, und mit ihm die Zeugungskraft immer neuer Dicht- und Kunstarten untergegangen war unter der Herrschaft der Könige nach Alexander, that Theokrit einen glücklichen Griff in der Poesie des Stillebens, indem er aus der Komödie der Sicilier und den Mimen heraus das Idyll schuf, und damit gewann die Poesie, den damaligen Zuständen angemessen, eine neue Belebung, welche mehrere Jahrhunderte nachhalten konnte. Der zweite glückliche Griff zur Zeit der römischen Kaiserherrschaft war die Fabeldichtung des Babrios, eine Unterthanen-Poesie welche ihren Stoff aus dem von jeher despotisch beherrschten Orient durch eine Sclaven zugeführt erhalten hatte, und, eben weil sie so gut für die damalige Menschheit paßte, allgemein mit Liebe aufgenommen und mit Eifer gepflegt worden ist. Babrios ist der letzte volksthümliche Dichter des Alterthums, und die Fabeldichtung das letzte naturwüchsige Erzeugniß auf dem Boden der griechischen Welt …
Johann Adam Hartung
im Vorwort zu:
Babrios und die älteren Jambendichter
Leipzig 1858

Montag, 16. März 2009

Der Goldfasan


Es war einst eine Hungersnoth
Im Thierreich, alles schrie nach Brod,

Die Vögel fielen aus der Luft,

Wie Mücken in die weite Gruft.

Ein Goldfasan schlich matt und schwer
Und ächzend durch den Hain umher;
Ihm sah ein Specht von ferne zu
Und sagte: Freund, was ächzest du?

An deiner Stelle hätt ich bald
Den fettsten Tisch im ganzen Wald;

Verkaufe nur dein reiches Kleid,

So hast du Brod auf lange Zeit.

Dem Goldfasan gefiel der Rath,

Er setzte seinen ganzen Staat
Bey einem alten Hamster ab,

Der ihm zwo Metzen Korn drum gab.

Nun pflegt er sich bey Fürstenkost;

Doch plötzlich fiel ein Winterfrost,
Und plötzlich war der arme Narr

Am nakten Leibe blau und starr.

O weh mir! sprach er nun zum Specht,
Mein guter Freund, dein Rath war schlecht;
Ich weiß, man stirbt aus Hungersnoth,
Doch wer erfriert, ist gleichfalls todt.

Gottlieb Konrad Pfeffel

Sonntag, 15. März 2009

Äsops Tod

Ganz Griechenland er gar durchzoch
Und kam gen Delphis lang darnoch.
Daselbs man im kein er antet,
Wie sichs denn wol gezimet het,
Denn er das end seins lebens gar
Bei in zubracht, sein letste jar.
Da er sie lang het underweist,
Mit guter ler zum besten greizt,
Gaben sie im das letste brot,
Von einem fels gestürzet tot.
Da folget bald ein pestilenz
Nach Gotts gericht und recht sentenz
Uber sie, drumb daß an dem man
Hetten ein solchen mord getan.
Denn Gott verschaffts also auf erden,
Daß aller mord gestraft muß werden.

Burkard Waldis
aus: Das Leben Esopi

Samstag, 14. März 2009

Der Fuchs

»Hast du die Satire gelesen, die der Löwe auf dich gemacht hat«, fragte der Wolf den Fuchs, »antworte ihm, wie sichs gebührt.« »Gelesen hab ich sie, aber deinem Rate folg ich nicht«, sagte der Fuchs, »denn der Löwe könnte mir auf eine fürstliche Art antworten.«

Novalis

Freitag, 13. März 2009

Fabel von dem fuchs und der katzen


Ein fuchs trabet über ein heid
und het ausgespecht auf der weid
vor einem walt der gens ein hert.
dem begegnet da on gefert
ein katz, die auch zu felt war gangen,
ob sie ir möcht der feltmeus fangen,
darmit sie iren hunger büßet.
der fuchs sprach: schwester, sei gegrüßet.
die katz im danket widerum
und hieß den fuchs auch sein wilkum.
nach dem sprach er der katzen zu:
sag an, mein schwester, was kanst du
für künst und was hast du gelert,
darmit du wertst auf ert ernert
und vor unfal schützst leib und leben?
da tet die katz im antwort geben:
mein herr fuchs, ich hab gar kein kunst
auf diser ert gelernet sunst,
den die mir hat einpflanzet nur
die herrlich mutter der natur,
das ist springen und bhendigkeit,
darmit ich fach in diser zeit
die meus, darmit ich mich erner.
darzu sagt der fuchs aber mer:
kanst du nichts den bhent sein und springen,
so wirt dein leben balt mislingen;
weil du sonst nichtsen kanst den das,
so bist unkönnent übermaß,
schlecht, beurisch und einfeltig gar.
sie sprach: mein herr fuchs, das ist war,
ich kan ie warlich nichtsen sunst;
ich bit aber, sag, wie vil kunst
kanst du, mein herr, gerecht und gut?
da antwort der fuchs in hochmut:
der künste der kan ich wol hundert,
allerlei art, fein ausgefundert,
nicht mittelmeßig, sonder wol.
wie man die kunst denn können sol,
die ich alle tet jehling leren;
der iedwede kan mich erneren
aus sorgen, angst und hungers not,
wenn schon vor augen wer der tot.
die katz sprach: domine doctor,
du gest mir weit mit künsten vor,
mir einfelting, kunstlosen armen,
die ich muß sterben on erbarmen;
dir aber gebürt langes leben,
weil du mit vil kunst bist umbgeben
und wirst überal wol gehalten,
erlich bei jungen und bei alten,
ich aber wert veracht aldo.
der fuchs der sprach: es reucht also.
nach dem da sprach die katz allein:
mich bedunkt in den augen mein,
wie ich sech aus dem walt von weiten
ein weidman gegen uns her reiten,
der fürt mit im zwen fraidig hunt,
welche vormals und auch iezunt
gewest sint unser ergste feint.
der fuchs sprach: aus dein worten scheint,
das du forchtsam und töricht bist
und einfeltig zu aller frist;
ob dus gleich sichst und sagst gleich war,
stunt uns doch darauf kein gefar;
ich weiß durch kunst in zu entrinnen.
die katz sprach: herr, das wirst wol innen.
als in der jeger nun war nahen,
und die hunt den fuchsen ersahen,
da fiengens gschwint auf in zu laufen
mit lautem gelzen und mit schnaufen,
zu fahen beid katzen und fuchs;
derhalb groß forcht in in erwuchs.
er sprach: uns ist zu fliehen not.
die katz die sprach: du treibst den spot,
förchst du dich bei den künsten dein?
der fuchs sprach: fliehens wirt not sein,
weil uns die hunt kommen genau.
ein ieder nun selbs für sich schau!
sprach die katz und sprang auf ein baum
und den hunden entran gar kaum.
der fuchs aber die flucht gab balt
gen berg auf zu dem dicken walt,
die hunt im aber kamen nahen
und nach im schnappten, in zu fahen.
das sach die katz hoch auf dem baum
und schrei: doctor fuchs, dich nit saum,
zeuch eine deiner künst herfür,
es tut dir not, als ich wol spür,
wan es ist dir zu ferr der walt,
wo du das tust nicht eilent balt,
so wirst von hunden du zerrißen:
was hilft dich denn vil künsten wißen?
der fuchs lof schnell und war nit faul,
schlug den hunden sein schwanz umbs maul,
darmit er sie im laufen blent;
doch ergriffens in an dem ent.
die katz schrei: bruder fuchs mit nam,
wo kom wir auf das nechst zusam?
der fuchs sprach: o des ich nicht weiß,
etwan beim kürßner in der beiß,
da wert wir wider kommen zsam.
darmit ir gsprech ein ende nam.

Der beschluß
Bei der alten fabel gedicht
wert wir zweierlei leut bericht.
die ersten uns der fuchs bedeut,
das sint künstner und rümisch leut,
die viler künst sich rümen vol,
der sie doch keine können wol;
haben keine gelernet aus,
das sin möcht tragen brot ins haus,
wie man denn sagt von solchem stück:
acht hantwerk, neunerlei unglück;
fahen vil an, bringen zum ent
doch kein werk mit munt oder hent,
verachten schlecht einfeltig leut.
werden durch die katzen bedeut,
die sich in der einfalt ernern,
achten nicht hoch rümlicher ern,
sonder nur was ist not und nutz
und in dienet zu irem schutz;
der einig kunst gebrauchen sie,
darmit sie sich behelfen hie
on allen rum vor ungemachs
mit weib und kinden, spricht Hans Sachs.

Anno salutis 1558., am 17. tage Junij.
Hans Sachs

Donnerstag, 12. März 2009

Fabel dient auch zur genauen Bestimmung eines Begriffs

Daß die Fabel nicht nothwendig einen allgemeinen Satz, oder eine Lehre enthalten müsse, sondern, ohne ihre Natur zu verändern, auch blos die genaue Bestimmung eines Begriffs, oder die Beschaffenheit einer Handlung ausdrüke, erhellet hinlänglich aus dem einzigen Beyspiel der Fabel, die der Profet Nathan dem David erzählt, welche blos dienen sollte, diesem König einen sehr einleuchtenden Begriff von der schändlichen Handlung, die er gegen den Urias begangen hatte, zu geben. Die äsopische Fabel von den Fröschen und den Stieren diente blos, um die Situation, in welchen sich geringere Bürger befinden, wenn die Mächtigen sich vermehren, recht lebhaft abzuschildern.

Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste
Band 1. Leipzig 1771, S. 361-365

Mittwoch, 11. März 2009

Individuen aus der vernunftlosen Natur …


Individuen aus der vernunftlosen Natur wählt der Fabeldichter bes. deshalb, weil jene einen bestimmten Charakter u. Instinct haben, weshalb theils alle weitere Charakterisirung der Handelnden unnöthig ist, theils dadurch in die Handlungen u. Ereignisse das Ansehen einer Nothwendigkeit gelegt wird. Der ausdrückliche Zusatz der in der F. enthaltenen Lehre kann vor od. nach der F. selbst stehen u. heißt in ersterem Fall Promythion, in letzterem Epimythion. Doch ist dieser Zusatz nicht nöthig, da, wenn die handelnden Individuen treffend gewählt u. nach ihrem Charakter u. Instinct richtig handelnd dargestellt werden, die Lehre sich von selbst ergibt; wenigstens in den griechischen F-n des Äsopos sind die Epimythien erst von Max. Planudes in späterer Zeit zugesetzt. Je nachdem man in der F. die Erzählung od. die Belehrung als Hauptmoment betrachtet, gehört sie zur epischen od. didaktischen Poesie. Der Form nach kann sie in gebundener od. ungebundener Rede, monologisch od. dialogisch sein. Der Vortrag in der F. muß, der Bestimmung derselben zufolge, kurz, klar u. einfach sein.

Pierer's Universal-Lexikon
Band 6. Altenburg 1858, S. 51-52

Dienstag, 10. März 2009

Die echte Fabel


Die echte F. ist, wie Mythus und Märchen, ein Erzeugnis des Gesamtbewußtseins und reicht in Zeiten zurück, in denen eine primitiv volkstümliche Auffassungsweise herrscht und eine Trennung verschiedener Bildungsschichten noch nicht eingetreten ist. In der F. macht sich die-beseelende oder personifizierende Apperzeption (s. Ästhetische Apperzeptionsformen) geltend, die in dem primitiven Bewußtsein vorwaltet, und sie erstreckt sich insbes. auf die Tiere, die als Menschen oder menschengleiche Wesen angesehen werden. So ist die ursprüngliche F. Tierfabel; sie wird nach ihrem vermeintlichen Erfinder Äsopos auch die Äsopische F. genannt. Das didaktisch-reflektierende Element kommt in der Tierfabel um so leichter und deutlicher zum Ausdruck, als wir hergebrachtermaßen jedem Tier eine bestimmte hervorstechende Eigenschaft beilegen. Erzählung und Moral sind in der F. noch unlösbar verbunden, und es ist nicht notwendig, aber schon seit alter Zeit beliebt, daß die letztere am Schluß (hier und da auch schon zu Anfang) in einer besondern Formel zusammengefaßt wird. In der modernen F. sind das erzählende und reflektierende Element in der Regel deutlicher voneinander geschieden, und die Erzählung dient nur zur überraschenden Darlegung einer bestimmten Wahrheit …

Meyers Großes Konversations-Lexikon
Band 6. Leipzig 1906, S. 241

Montag, 9. März 2009

In jener schönern Zeit …

In jener schönern Zeit, wo noch die ganze Natur dem Menschen näher stand, wo jeder Baum, jede Blume lebte und selbst das zutraulichere Thier den Menschen mit sprechenden Augen ansah, in den Tagen, wo der Mensch noch ein harmloses Kind war, und unbefangen mit den ihn umgebenden Gegenständen spielte, in jener Zeit einer einfachen unschuldigen Sinnlichkeit entstand die Fabel. Kinder lieben das Erzählen, sie wollen im Sinnlichen das Geistige erschauen; ein Mährchen, eine Geschichte macht auf sie einen weit tiefern Eindruck als alle Ermahnungen und belehrende Vorlesungen; auch ziehen sie die moralischen Wurzeln leichter aus solchen erdichteten Vorfällen als aus selbsterlebten Ereignissen, mit denen sich Leidenschaft und Selbstbefangenheit vermischen, und wir werden leichter durch fremden Schaden klug als durch eignen. Dieß erkannten schon die ältesten Weisen; um eine Lehre, eine Moral, eine Maxime der Lebensklugheit zu veranschaulichen, gebrauchten sie ein Bild, ein Gleichniß, oder kleideten sie in das Gewand der Fabel …

Damen Conversations Lexikon
Band 4., 1835, S. 50-51.

Sonntag, 8. März 2009

Jedes Kunstwerk soll eine tiefe Bedeutung haben

… Da in der Fabel die Phantasie den unbeschränktesten Spielraum hat, so pflegt man im Allgemeinen alle Erdichtungen, im Gegensatze gegen die Wirklichkeit, Fabeln zu nennen, sowie man die Gestalten der Einbildungskraft, welche aufgeführt werden, als fabelhaft bezeichnet. Sehr mit Unrecht werden vorzugsweise inhaltleere, bedeutungslose Erdichtungen Fabeln genannt. Vielmehr liegt es im Wesen der eigentlichen Fabel, eine Bedeutung zu haben. Die Alten, und nach ihnen auch neuere Schriftsteller, nannten daher die in einem Schauspiele dargestellte Geschichte, dieselbe mochte nun eine historische, mythologische oder rein aus der Phantasie des Dichters hervorgegangene sein, die Fabel des Stücks, denn jedes Kunstwerk soll eine tiefe, innere Bedeutung haben.

Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon
Band 2. Leipzig 1838., S. 1


Samstag, 7. März 2009

Die Fabel als Lüge

Das die Fabel auch ein Synonym für die Lüge ist, lässt sich aus vielen Sprichwörtern herauslesen, z.B.:

»Der Fabel ein Farb anstreichen«

sinngemäß: Der Lüge eine Gestalt geben.


»Es ist eine Fabel ohne Kopf«

womit gemeint ist, dass es eine ungeschickt erfundene Lüge ist.


Horst-Dieter Radke

Freitag, 6. März 2009

Der Löwe und der Esel


Ein Esel schleppt sich aus dem Luder;
Ein Löwe kömmt ihm zu Gesicht;
Zu diesem naht er sich, und spricht:
Ich grüße dich, mein lieber Bruder!
Der Löwe stutzet, und ergrimmt,
Sobald er sich die Mühe nimmt,
en Bruder ins Gesicht zu sehen.

Doch denkt er: Einen edlen Muth
Versöhnet nur ein tapfres Blut;
Allein die Esel läßt man gehen.
Friedrich von Hagedorn

Donnerstag, 5. März 2009

Habicht und Nachtigall

Nun sei den Fürsten ein Mährchen erzählt, die ja selber auch einsehn.
So zur Nachtigall einst, der melodischen, sagte der Habicht,
Als er, mit Krallen gefaßt, durch hohes Gewölk sie einhertrug.
Sie, wehklagendes Lauts, von den spitzigen Krallen verwundet,
Jammerte; jener darauf, voll herrisches Trozes, begann so:

Was, Unselige, schreist du? Ein Stärkerer hält dich gebändigt!
Du mußt gehn, wie ich führ', obschon du dich Sängerin rühmest.
Dich nach Gefallen bereit' ich zum Schmause mir, oder entlass' ich.
Sinnlos, wer sich vermißt, der Gewalt zu begegnen mit Ohnmacht:
Sieg erlanget er nie, und trägt zum Schimpfe den Kummer.

So im sausenden Schwunge der weitgeflügelte Habicht.

Hesiod, aus: Werke und Tage
Übersetzer: Johann Heinrich Voß

Mittwoch, 4. März 2009

Ich sinn' der alten Fabel nach

Ich sinn' der alten Fabel nach,
Die ernsthaft uns belehret,
Daß alles, was gewesen war,
Dereinstens wiederkehret.

Zwar wiederkehrt nach langer Frist,
Nach vierzigtausend Jahren,
Dann aber auch genau, wie wir's
Das erste Mal erfahren.

Nun ist mir so, als hätt' ich dich
In einem frühern Leben,
Unholdes Liebchen, schon gesehn
Und mich dir ganz ergeben.

Und du, du hättest alle Treu'
Und Lieb', die ich empfunden,
Mit herbem Spotte mir gelohnt
Und tiefen Herzenswunden.

Mir tönt, ach, so vertraut und doch
Ernüchternd deine Sprache,
Mich höhnt, wie einmal schon gehört,
Die silberhelle Lache.

Ich liebend ohne Hoffnung und
Du herzlos ohne Reue,
Es ist als wie ein altes Spiel,
Das wiederkehrt aufs neue.

Ein altes Spiel – wir können dreist
Die Wiederholung wagen,
Du bist im Quälen wohlgeschult
Und ich für das Ertragen.

Und überläuft's mir oft das Herz
So bang und maienfröstlich,
Dann deucht mir – albern wie sie ist –
Die alte Fabel tröstlich!

Ludwig Anzengruber, 1882

Dienstag, 3. März 2009

Fabelhans

gemeint ist damit jemand, der gern fabelhafte Dinge hört oder erzählt, also auch ein Fabeldichter.

(
Siehe dazu auch: Handwörterbuch der deutschen Sprache …, Dr. Joh. Christ. Aug. Heyse / K.W.L. Heyse, Magdeburg 1833)

Horst-Dieter Radke

Montag, 2. März 2009

Wenn dichtend Träum' und Fabeln ich erdenke

Wenn dichtend Träum’ und Fabeln ich erdenke
Und zeichne sie auf weiße Blätter hin,
Nehm’ ich so Antheil dran, Thor, der ich bin,
Daß um Erfundnes ich mich gräm’ und kränke.

Doch wenn ich nicht mich in die Kunst versenke,
bin ich dann weiser? ruhiger mein Sinn?
Und was an Lieb’ und Zürnen lebt darin,
Ist’s wesenhafter, als was ich nur denke?

Ach, nicht nur was ich dichte, sind zuhauf
Nur Fabeln, Hoffnung, Kummer und Beschwerde
Nur Schein und Trug! Von Wahn bin ich befangen.

Ein Traum ist meines Lebens ganzer Lauf.
Laß du, Herr, wenn ich einst erwachen werde,
Mich an der Wahrheit Busen Ruh’ erlangen!

Pietro Metastasio, (1698 - 1782)
Übersetzung: Paul Heyse

Sonntag, 1. März 2009

Der Fuchs erklärt das Wort Usurpation

Als dieses Wort durch widerliche Umstände auch unter den größeren Tieren zur Sprache kam, fragte König Löwe, was es auch eigentlich bedeute.

"Sire!" antwortete der Fuchs, "es ist in seinem Wesen nichts anderes als eine abscheuliche Folge der irrigen und gefährlichen Lehre von einem Krautfresserrecht, dem man uns, die wir keine sind und keine sein wollen, wider unsere Natur und wider unsern Willen zu unterwerfen sich freventlich anmaßt."

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Das ist freilich eine einseitige Zeiterklärung, derenthalben es ein großes Unglück wäre, wenn ihre Ursachen auf unserem Wohnplatz vergessen und so lange die Welt steht, nicht mehr zur Sprache kommen würden. Das aber ist nicht zu fürchten. Die diesfälligen Irrtümer sind nur vorübergehende Zeitirrtümer, und ebenso ist die diesfällige Blindheit selber nur eine vorübergehende Zeitblindheit; und es ist Welterfahrung, eine Zeit sticht der anderen den Star, und, gottlob, fallen die Schuppen von dergleichen Irrtümern den Völkern gar oft von den Augen, ehe es noch not tut oder auch nur noch zu wünschen wäre, daß die Vorsehung ihnen darüber den Star selber stechen möchte.

Johann Heinrich Pestalozzi